: Lebende Blumen, liebliche Balz
■ Sommertheater: Marie Chouinards Interpretation von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“
Das Opfer des Frühlings ist eines der ältesten chtonischen Mythen der Welt und exisitiert in fast allen Religionen und Kulten. Immer muß ein Heros sterben, um mit seinem Blut die Befruchtung der Erde zu ermöglichen. Von Adonis bis Osiris reichen die verschiedenen Gestalten der Blutopfer, in Le Sacre du Printemps ist es, gemäß eines alten russischen Mythos, ein junges Mädchen.
Davon ist bei Marie Chouinards Interpretation leider nichts mehr vorhanden. Die kanadische Choreografin interessiert eine esoterische Naturwissenschaft, die sie kunstvoll in kontrollierte Eleganz übersetzt. Das reine Wachsen, das emphatische Entstehen von Leben stellt sie dar, das Erblühen und spielerische Erkämpfen von Welt. Chouinard sucht das rein Positive, das glückliche Schöne, nicht den Zyklus von Zerstörung und Neubeginn und schon gar nicht die darwinistischen oder bipolaren Prinzipien der Natur.
Wo man die alten Mythen in ihrer gewalttätigen Metaphorik schon nicht ernst nehmen möchte, da erfindet man sich eben neue. Chouinards neue Mythen sind physikalischer Natur. Um emotionale Synchronität als künstlerisches Prinzip zu rechtfertigen, bemüht sie das Bild elektronischer Teilchen, die auch nach der räumlichen Trennung gleichzeitig ihre Ladung wechseln. Welch Treue, welch Unbeflecktheit!
Entsprechend harmonisch illustrativ, kraftvoll und kitschig bewegt sie ihre Tänzer und Tänzerinnen. In unschuldig weißen Leibchen treten sie in Lichtkegel und zeigen Stop-and-Go-Bewegungen voll heiliger Herrlichkeit und Ehrfurcht vor dem Unbekannten. Zwischen „Expedition ins Tierreich“ (wir sehen Reiher zwischen Seerosen, Hähne beim territorialen Kampf, Nashörner und anderes Getier), lebender Flora (dorniges Gestrüpp und edle Blumen) und naiver Darstellung aus der Welt der Mythen und Märchen (Einhörner, Apis-Stiere, ägyptische Gottheiten) entfaltet sich ein Zauber, ganz nach dem Geschmack der inhaltsleeren Künstlichkeit.
Dornen, erst als Sprößlinge aus dem Boden stakend, dann als Horn, Balzwaffe oder Pflanzenteil benutzt, sind in ihrer ästhetischen Stacheligkeit so schmerzhaft wie ein Campari-O-Saft und der distinguierte Diebstahl von Tempeltänzen und rituellen Darstellungen zur Verfeinerung der Choreografie ist wirklich sehr gelungen.
All dies ist wunderschön und perfekt getanzt und zeigt erstaunliche Verrenkungen. Ein wirklicher Genuß! Till Briegleb
Noch heute, Halle 6, 20.30 Uhr
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