: Weimar – ein Stereotyp der Selbstberuhigung
Vor 75 Jahren unterschrieb Friedrich Ebert die Weimarer Verfassung. In der Bundesrepublik diente die Kritik an ihr der Feier der „wehrhaften Demokratie“. Ein respektvoller Rückblick aus der sicheren Distanz von ■ Christian Semler
Jedesmal, wenn bisher in der Bundesrepublik politische Kräfte auftauchten, die sich der Berechenbarkeit entzogen, jedesmal, wenn es schwierig wurde, im Rahmen der gängigen Koalitionen Mehrheiten zu finden, wurde zusammen mit dem Schreckensruf der „Unregierbarkeit“ das dazugehörige Schreckensbild beschworen: die drohenden „Weimarer Verhältnisse“. War aber die Irritation behoben, so stimmten die Machteliten den vertrauten Chorus „Bonn ist (doch) nicht Weimar“ an und gewannen ihre Seelenruhe zurück. Kaum eine Sentenz ist so häufig zitiert worden wie der Buchtitel von Fritz René Allemanns scharfsinniger Studie aus dem Jahr 1956 – und kaum ein Buch wurde so wenig gelesen.
Obwohl es Allemann an Warnungen vor den negativen Folgen der „Kanzlerdemokratie“ nicht hatte fehlen lassen, eignete sich doch sein Leitmotiv, die im Vergleich zu Weimar stabilen politischen und verfassungsrechtlichen Bonner Verhältnisse, hervorragend dazu, zum Stereotyp der westdeutschen Selbstberuhigung zu werden. „Weimar“ als Negativ- Stereotyp hingegen stand für die Zersetzung demokratischer Verhältnisse, für die Unfähigkeit, dem Nationalsozialismus zu begegnen. Bonn, so das Normalitäts-Dispositiv, konnte erfolgreich sein, weil es die Konsequenzen aus dem Scheitern Weimars gezogen hatte.
Fehlerhafte Fehlersucher
In der politischen wie historischen Literatur wurde die Kritik der „Weimarer Verhältnisse“ auf die Verurteilung der „Konstruktionsfehler“ zugespitzt, an denen die Verfassung Weimars von Anfang an gelitten habe. Vor allem habe es die „Wertneutralität“ des Verfassungstextes unmöglich gemacht, gegen die „Extreme von links und rechts“ vorzugehen. Dieser Mangel sei durch die Möglichkeit des Parteienverbots im Grundgesetz behoben worden. Zum zweiten wurde der Weimarer Verfassung angekreidet, sie habe durch ihre plebiszitäre Komponente der extremistischen Demagogie Tür und Tor geöffnet. Folgerichtig habe das Grundgesetz auf alle Elemente der direkten Demokratie verzichtet. Nach der Weimarer Verfassung sei es äußerst leicht gewesen, eine Regierung zu stürzen und damit Verhältnisse heraufzubeschwören, die es dem Präsidenten möglich machten, am Parlament vorbei mittels Notverordnungen zu regieren. Die Konsequenz war das konstruktive Mißtrauensvotum des Grundgesetzes. Der Präsident selbst wurde im Grundgesetz seiner „Weimarer“ Machtfülle entkleidet, von der Bundesversammlung (und nicht mehr direkt vom Volk) gewählt, sein Amt auf fast ausschließlich repräsentative Funktionen reduziert.
Schließlich wurden die Grundrechte unmittelbar geltendes Recht, und mit dem Verfassungsgericht wurde durch das Grundgesetz eine Instanz eingerichtet, die – anders als in Weimar – Grundrechtsverletzungen durch den Staat effektiv ahnden konnte. Zusammengenommen argumentierte die Kritik an der Weimarer Verfassung von den Jahren 1930–33, von der Zerfallsperiode, von der Schlechtwetterzone her. Das ist im Prinzip legitim, wenn man die Tauglichkeit einer Verfassung für Krisenzeiten analysiert.
Aber die Kritik, selbst wo sie so berechtigt war wie am Weimarer Präsidialsystem, war allzusehr dem juste milieu der alten Bundesrepublik verhaftet, war von der Konfrontation des Kalten Krieges, von der Angst vor Volksbewegungen, von der hauptsächlichen Sorge um effektive Regierungsarbeit diktiert. Die Abgrenzung von Weimar und seiner Verfassung hatte und hat starke ideologische Motive. Sie verfehlt ihre Aufgabe, Weimar anders zu sehen als in dem Gegensatzpaar von heutiger Normalität und damaliger Pathologie.
Diese Strategie der Selbstberuhigung durch Vergleich wird jetzt in dem Maße prekär, wo der politische Alltag im vereinten Deutschland selbst zunehmend pathologische Züge annimmt. Politologen und Historiker beginnen, sich „Weimar“ in seiner funktionstüchtigen Periode zuzuwenden, seine politischen Integrationsleistungen hervorzuheben, es, wie Angelo Bolaffi, als erstes Beispiel einer sozialstaatlich verfaßten Massendemokratie zu rühmen. Zu einer neuen, öffentlichen Reflexion darüber, was uns im Jahr 5 der deutschen Einheit die Weimarer Verfassung zu sagen hätte, wird es allerdings auch an diesem 11. August 1994 nicht reichen, also auf den Tag 75 Jahre nach der Unterzeichung des Dokuments durch den Reichspräsidenten Ebert.
Bruch oder Kontinuität?
Verfassungsfragen waren allerdings auch im August 1919 ungefähr das letzte, was die damalige Öffentlichkeit beschäftigte. Die Eliten des Kaiserreichs hatten sich mit der Republik (vorläufig) abgefunden, nachdem klar geworden war, daß weder personell noch institutionell am Berufsbeamtentum, am Offizierskorps und am Justizapparat gerüttelt werden würde. Das war vor der Verfassung entschieden worden und die logische Konsequenz aus der Tatsache, daß sich die Mehrheitssozialdemokratie mit der Armee bzw. den Freikorps verbündet hatte, um die revolutionären Bewegungen niederzuschlagen. Die im Januar 1919 gewählte, von der Mehrheits- SPD, dem Zentrum und den Linksliberalen beherrschte Nationalversammlung war das genaue Gegenteil eines Parlaments, das sich – den englischen oder französischen Vorbildern folgend – zum selbstbewußten Souverän aufgeschwungen hätte, bereit, die „Massen“ zur Entmachtung der alten Führungsschichten und zur Verteidigung der Republik aufzurufen.
Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Exekutive war schon im Oktober 1918 von der Obersten Heeresleitung konzediert, um nicht zu sagen: angeordnet worden. Ebert und die Mehrheits-SPD wären bereit gewesen, auf ein konstitutionelles Kaisertum einzuschwenken, wenn ihnen die Massenrevolte gegen die Hohenzollern-Dynastie nicht in die Quere gekommen wäre. Um so leichter fiel es den meisten SPD- Führern, das „Ersatzkaisertum“ zu akzeptieren, auf das die Konstruktion des Reichspräsidenten in der Verfassung schließlich hinauslief. Das Präsidialsystem war nicht das Produkt eines ausgeklügelten Systems der checks and balances zwischen den drei Gewalten, erdacht von Professoren, die bei Verfassungsdebatten (wie im Paulskirchen-Parlament von 1948/49) endlich den ersehnten Lorbeer öffentlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung ernteten. Hugo Preuß, der mit der Ausarbeitung des ersten Entwurfs beauftragte liberale Gelehrte, fürchtete mit dem angeblich drohenden „Parlamentsabsolutismus“ etwas sehr Konkretes – eine fortdauernde sozialreformerische Mehrheit im Reichstag.
Hinter seinem Projekt eines machtvollen Präsidenten, vom Volk gewählt und jederzeit berechtigt, über das Parlament hinweg an das Volk zu appellieren, verbarg sich die Vorstellung des charismatischen Führers. Es war Max Weber, dessen theoretischer Schatten hier die Beratungen des Verfassungsausschusses lenkte. So anfällig dieses „Ersatzkaisertum“ auch für autoritäre Lösungen in Zeiten der Krise war – man wird nicht sagen können, daß das während der Wirtschaftskatastrophe 1930–32 von Brüning exekutierte präsidentielle Notverordnungsregime Hitler den Weg geebnet habe. Dies zu behaupten liefe nicht nur auf eine Überschätzung von Verfassungsinstitutionen für den historischen Prozeß hinaus. Es unterschlüge auch die Alternativen zu Hitler, die bis Januar 1933 bereitlagen.
Jeder sozialdemokratische Funktionär kannte zwar Lassalles Diktum „Verfassungsfragen sind Machtfragen“, aber niemand konnte und wollte sich vorstellen, was das konkret für die Arbeit an einem Verfassungsentwurf bedeutete. War es für eine Politik der Sozialreformen gut oder schlecht, wenn Preußen aufgelöst, eine Reihe neuer Freistaaten gebildet und die Reichsregierung mit starken Befugnissen ausgestattet wurde? Hugo Preuß wollte es so, aber die SPD-Führung winkte ab – aus Angst vor dem Separatismus der dann neu zu bildenden Rhein- Staaten, also aus einem pragmatischen, tagespolitischen Motiv. Paradoxerweise war es gerade Preußen, das bis zum Staatsstreich von 1932 zur Bastion republikanischer Gesinnung werden sollte. Aber die Frage, ob sich die Auflösung Preußens nicht als Faktor dauerhafter demokratischer Stabiliserung hätte herausstellen können, ist damit nicht beantwortet – und wurde von der SPD 1919 nicht gestellt.
Für die Verfassungsväter (und die gar nicht so geringe Zahl der Verfassungsmütter) stand außer Frage, daß aus dem Prinzip der Volkssouveränität die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheiden folgen müsse. Da die Parteien, wenn überhaupt, dann nur negativ in der Weimarer Verfassung erwähnt wurden, gab es natürlich die Gefahr, daß ihre Scharnier-Funktion zwischen Staat und Gesellschaft durch den ständigen, unmittelbaren Rekurs auf den Volkswillen ausgehebelt werden würde. Auch die Möglichkeit des Mißbrauchs durch Demagogen wurde vereinzelt schon in den Beratungen des Verfassungsausschusses von 1919 laut.
Untersucht man die nicht sehr erfolgreiche Geschichte der Volksentscheide in der Weimarer Republik, so kann man auf alle Fälle festhalten, daß nicht sie es waren, die die Stabilität des Staatswesens untergruben. Gegen die erfolgreichste dieser Kampagnen, den (im Endeffekt ergebnislosen) Volksentscheid zur Fürstenenteignung, ist oft geltend gemacht worden, er habe auf einer widernatürlichen Koalition zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten basiert, mithin auf einem Bündnis, das zur Festigung demokratischer Verhältnisse nichts habe beitragen können. Wer sagt denn, daß bei einem erfolgreichen Entscheid nicht eine politische Dynamik auch bei den Kommunisten in Gang gesetzt worden wäre? Und hätte es nicht sein können, daß zumindest Teile der KPD sich nicht erst 1935, sondern schon in der Weimarer Zeit zur demokratischen Republik bekannt hätten?
Im Gegensatz zu Weimar ist die heutige Bundesrepublik ein festgezurrter Parteienstaat, der es neuen Bewegungen und Kräften so schwer wie möglich macht, in den politischen Entscheidungsraum vorzudringen. Will man nicht das dogmatische Prinzip nachbeten, wonach die Formen der Machtausübung strikt repräsentativ zu konstruieren sind, so lohnt ein Blick auf die Elemente direkter Demokratie in Weimars Verfassung.
Mehr milde bespöttelt als verurteilt werden heute die Verfassungsrudimente, die von der mißratenen Revolution des Winters 1918/19 zeugen. So die Hinweise auf die Sozialbindung des Eigentums, die Möglichkeiten der Gemeinwirtschaft, die Sozialisierungsbestimmungen, vor allem aber der Artikel 165, der die Bildung eines Reichswirtschaftsrates vorsah. Der Rat sollte zwar nur konsultativen Charakter haben, war aber mit dem Recht ausgestattet, Gesetze zu initiieren. Nach 1919 fristete er aber das voraussehbare Kümmerdasein als Mischmasch-Interessenvertretung.
Es hat in der deutschen Arbeiterschaft bei Kriegsende Tendenzen gegeben, anstelle des parlamentarischen ein demokratisches, „reines“ Rätesystem zu setzen. Aber diese vor allem im Milieu der USPD, der revolutionären Berliner Obleute und natürlich der (politisch isolierten) KPD populäre Forderung hatte nie eine Chance, die Mehrheit zu gewinnen.
Sozialistische Rudimente
Hauptsächlich waren die Räte im Winter 1918/19 Machtorgane, die den Frieden und die Abdankung der verhaßten Herrscherhäuser durch Massenstreiks erzwingen sollten. Daneben bewältigten sie – oft mit Erfolg – die Alltagsprobleme, die Demobilisierung und Hungersnot aufwarfen. Gewerkschaften und Mehrheits-SPD waren strikt gegen die Räte eingestellt und hofften nicht zu Unrecht darauf, sie würden verschwinden, wenn die revolutionäre Welle abebbe. Hätte es zu praktikablen Mischformen zwischen parlamentarischem und Rätesystem kommen können? Die Regierung Kurt Eisners in München, die diesen Weg beschritt, war von zu kurzer Dauer, um ein Urteil abzugeben. Und die Bestimmung des Artikel 165 der Weimarer Verfassung konstruierte den Reichswirtschaftsrat von vorneherein als korporativistisches Organ, als „zweite“ Wirtschaftskammer. Dieser Weg hat sich als letztlich undemokratischer Irrweg herausgestellt, obwohl er, bis zur Zeit der ersten Solidarność 1980/81 in Polen, immer wieder versucht wurde.
Eine ganz andere, wenngleich gegenwärtig ziemlich unzeitgemäße Frage wäre die nach der verfassungsmäßigen Absicherung von Formen der ökonomischen Mit- und Selbstbestimmung. Hier böte zwar nicht der schließliche Verfassungstext Anknüpfungsmaterial, wohl aber die Debatten im Milieu linker Arbeits- und Staatsrechtler, die auf die Verfassungsarbeit (im ganzen vergeblich) Einfluß zu nehmen versuchten.
Die Nationalversammlung war nicht in Weimar zusammengetreten, um vom örtlichen Genius – Humanität und Weltbürgertum – zu profitieren, sondern weil der Ort ruhig und ein zuverlässiges Freikorps zur Hand war. Gemessen an der gestellten und auch erfüllbaren Aufgabe, als Abbruchunternehmen für die Strukturen des Kaiserreichs zu wirken, war sie ein eher legitimistischer Verein, auf Kontinuität bedacht und auf Brücken zur Vergangenheit. Ironischerweise hatte sich im Sommer 1919 die Landschaft so sehr zugunsten der Konterrevolution gewendet, daß der am 11.8. 1919 unterzeichnete Verfassungstext schon fast wieder von demokratischer Tatkraft zeugte. Für die Transformation der Weimarer Republik in demokratischer und sozial progressiver Richtung wäre sie kein Hindernis gewesen. Man sollte es ihrer Konstruktion nicht anlasten, daß sie dem Vormarsch der Nazis juristisch nichts entgegenzusetzen hatte. Auch die „wehrhafteste“ Demokratie bricht zusammen, wenn sie niemand mehr verteidigt. Wie um sie zu verhöhnen, haben die Nazis die Weimarer Verfassung niemals formell außer Kraft gesetzt. Ihre Trümmer galten bis zum 8. Mai 1945.
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