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Vom Teltow zur Silberstraße

Entlang der B 101 durch die brandenburgische und sächsische Provinz  ■ Von Robert Zimmer

Road-Essays, das sind Spotlights auf Straßen und Routen des Hinterlands, das Aufspüren des Signifikanten dort, wo das programmierte Reisen nur das Banale, die Provinz, die Peripherie sieht. Alle zwei Monate ein Road-Essay: Gedanken und Beobachtungen zu einer vielleicht nahen, unspektakulären, aber kaum wahrgenommenen Strecke. In Deutschland und anderswo. Off we go!

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Im Berliner Süden endet die Siedlungsgrenze abrupt. Dort, wo die Marienfelder Allee auf den ehemaligen Mauerstreifen trifft, stehen ein Imbiß und improvisierte Gemüsestände; ein paar Überreste der alten Grenzbefestigung liegen verstreut herum. Es ist jene Straße, auf der der junge Fontane 1834 seinen Ausflug zum Schauplatz der Schlacht von Großbeeren machte. Als B 101 führt sie heute von Berlin bis ins Erzgebirge, am Rande der großen Zentren und Verkehrsachsen mitten durch ostdeutsches Stilleben.

Nachdem ich einmal die Hügel des Teltow und den Berliner Autobahnring in Richtung Süden überquert habe, legt die Zeit einen kleineren Gang ein. Luckenwalde, Mittelpunkt des Teltow-Fläming- Kreises, hat den tristen Charme einer märkischen Kleinstadt. Ein Obelisk erinnert an den Schleswig- Holstein-Krieg von 1863, und im Café Korso in der Fußgängerzone sitzen ein paar verstreute Besucher. Ein paar hundert Meter weiter liegt der Stadtpark mit seinem kleinen, an diesem Tag verlassenen Tiergehege. Verblüfft stehe ich vor der Kasse des Vertrauens“ („Wirf die Eintrittsgelder ein — die Tiere werden dir dankbar sein“), einem Kleinod realsozialistischer Alltagspädagogik. Gegenüber, im Luckenwalder Gymnasium, der früheren Lenin-Oberschule, wurde 68er-Geschichte geschrieben. Vor der Inschrift über dem Eingangsportal gehe ich in „Hab acht!“-Stellung, denn wieder ist Sinnstiftung angesagt: „Durch Bildung zur Freiheit — Ihr seid das Saatkorn einer neuen Zeit“. War der junge Rudi Dutschke gemeint, der hier in den fünfziger Jahren das kleine Einmaleins des Marxismus- Leninismus so gut lernte, daß er später das Westberliner Bürgertum schreckte?

Ich verlasse Rudi-Dutschke- Stadt in Richtung Kloster Zinna, einem inzwischen beliebten Wochenendausflugsziel der Berliner. Noch im 18. Jh. verlief hinter dem Ort die preußisch-sächsische Grenze. Friedrich II. plante um das ehemalige Zisterzienserkloster herum eine preußische Musterstadt, deren Grundriß noch an dem reißbrettartigen Straßenverlauf erkennbar ist. Kloster Zinna war ein politisches Prestigeobjekt des Alten Fritz, und sein von der DDR entferntes Denkmal wurde jüngst auf dem Marktplatz wieder aufgestellt.

Auf der ehemals sächsischen Seite, gerade mal vier Kilometer entfernt, liegt Jüterbog, das sich wegen der erhaltenen mittelalterlichen Kirchen und Stadttore euphemistisch das „Rothenburg der Mark“ nennt. In St. Nikolai steht noch der „Tetzelkasten“, das Bußgeldsafe des Ablaßpredigers Johann Tetzel. Die Preußen machten die Stadt zum Standort einer Garnison, und bis heute hat Militärgeschichte Jüterbog geprägt. Plastikblumen und rote Sterne erinnern an die Präsenz der Sowjetarmee nach dem Zweiten Weltkrieg.

Vorbei an stillen Dorfteichen und Entwässerungskanälen, entlang endloser Chausseen: Wir sind im Elbe-Elster-Kreis, dem toten Winkel Brandenburgs. Berlin ist so weit weg wie Dresden oder Leipzig. In der Kreisstadt Herzberg fahren Jugendliche mit ihren Motorrädern die Hauptstraße auf und ab. Ich trete in „Bernd's Bistro“ ein, und alle Köpfe wenden sich. Ich bin der „Alien“, und Fremde fallen in Herzberg auf. Hier wird die Welt postmodern simuliert: Vor dem Hintergrund lila gestrichener Wände flimmert MTV, und bei Eis und Pizza, mit dem Blick auf den Coca-Cola-Report, wird das authentische Metropolenfeeling suggeriert.

Nach Sachsen hin verändern sich Landschaft, Architektur und Siedlungsstruktur. Die Dorfanger werden durch Marktplätze abgelöst, die trutzigen preußischen Kirchtürme werden schlanker, und der Blick endet an Hügeln und Bergen. In Bad Elsterwerda treffe ich auf eine kurfürstlich-sächsische Postsäule: Noch 8 (Postkutschen- )Stunden bis Meißen.

Meißen, dessen mittelalterliche Altstadt sich um den Burgberg gelegt hat, ist immer die Stadt hinter Dresden geblieben. Die überdimensionierte Albrechtsburg wurde im 15. Jh. als sächsische Residenz geplant, doch nie als solche bezogen. Im 18. Jh. diente sie gar als Fabrikhalle für die berühmte Prozellanherstellung, und wieder hundert Jahre später dekorierte man das Interieur mit einer kitschigen Historienmalerei. Die so entstandene Mischung aus frühneuzeitlicher Architektur und Trivialkunst ist zur Attraktion für Touristen geworden, die für einen Tag von Dresden herüberkommen.

In Freiberg stößt die B 101 auf die Silberstraße, Sachsens erste ausgewiesene Ferienstraße. Sie erschließt die alten erzgebirgischen Bergwerksreviere. In der ältesten Bergstadt des Erzgebirges hat man ein weitgehend intaktes Innenstadtensemble aus dem 16. Jh. renoviert und zu einer großzügig angelegten Fußgängerzone gemacht. Daß die ehemalige Bergwerksakademie als technische Hochschule entwickelt wird, hat der Stadt ein studentisches Publikum und damit eine lebhafte Kneipen- und Kleinkunstszene eingebracht.

Erzgebirgischer Industriegeschichte begegne ich nun entlang der B 101 auf Schritt und Tritt. Zwischen Freiberg und Annaberg ragen drei bizarre, pyramidenförmige Türme am Straßenrand empor. Es sind ehemalige Verbrennungsöfen des Kalkwerks Lengefeld. Hier wurde mit Holz und Torf Kalkstein gebrannt. Die Öfen sind heute Teil des seit 1986 angelegten Industriemuseums, in dem die Arbeitswelt der Bergleute anschaulich begangen werden kann. In Annaberg-Buchholz, der seit 1945 vereinigten Doppelstadt, wurde die Geschichte des Silberbergbaus mitgeschrieben. Auch Adam Riese, das Großrechenhirn des 16. Jahrhunderts, hat hier in der Bergbauverwaltung gewirkt.

Nach 330 Kilometern endet die B 101 in Aue, dem Zentrum des Wismut- und Uranabbaus. Auf die noch strahlenden Abraumhalden der Umgebung werden die Bewohner ungern angesprochen. Die karge und flache Landschaft Brandenburgs ist hier weit weg. Mit ihren steinernen Brücken, den Bürgerhäusern und dem Bergpanorama erinnert mich Aue eher an eine Schweizer Kleinstadt. Doch die strukturellen Umbrüche der Nachwendezeit sind überall spürbar. „Hier war früher einiges los, doch seit der Wende gehen die jungen Leute weg“, klagt die Bedienung in der Hotelbar des „Blauen Engel“. Auf dem Altmarkt gegenüber sehe ich an diesem Sonntagvormittag nur wenige herausgeputzte Spaziergänger.

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