: „Ich will mehr als Multikulti“
Gesichter der Großstadt: Tamara Hentschel / Ist sie unbequem, oder zieht sie den Ärger an? Sicher ist: Sie kämpft für die Rechte von Ausländern ■ Von Kathi Seefeld
Der Dienstag sei ein „bißchen extrem“ gewesen. Vormittags acht Vernehmungen, dann schnell mal nach Hause, Wäsche gewaschen, danach mit einem Kollegen zu Fritz!, drei Stunden Radiosendung. Und am nächsten Vormittag fährt sie schon wieder mit zu den Vernehmungen. Tamara Hentschel, 39jährige Berlinerin – ihr und ihrem „Reistrommel e.V.“ ist es zu verdanken, daß den gewalttätigen Übergriffen von Polizisten auf Vietnamesen in der Öffentlichkeit endlich Beachtung geschenkt wird. Seit Monaten hatte sie Fälle ehemaliger VertragsarbeiterInnen der DDR oder AsylbewerberInnen zusammengetragen, die nach der Wende von Beamten mißhandelt, mißbraucht oder bestohlen wurden. Inzwischen agiert die Staatsanwaltschaft.
Tamara Hentschel dramatisiere, mache die Pferde scheu und ziehe den Ärger an, sagen Leute, die von der Arbeit mit ausländischen Mitbürgern andere Vorstellungen haben. „Aber dann müßte ich doch blind und taub sein, um nur auf Multikulti zu machen“, sagt die Frau, die sich selbst in einer Marzahner Plattenbauwohnung wohl und zu Hause fühlt. Die sich Sorgen macht, daß ihre Tochter und ihr Sohn, 15 und 17 Jahre alt, zu kurz kommen und die unlängst ein obdachloses Mädchen bei sich aufnahm, daß ihre Kinder irgendwo kennengelernt hatten, und für das sie nun die Pflege übernehmen will.
„Zu alt“ für den Jugendverband der DDR
„Ich kann eben keine Ungerechtigkeit ertragen.“ Ein Satz, mit dem er einst begonnen haben muß, Tamara Hentschels Kampf gegen die Schönredner, Selbstbediener und Machtmißbraucher in der DDR. Als sie im VEB Berliner Damenmoden mit Ehrlichkeit die Arbeit der FDJ zu neuem Leben erwecken wollte, befand man sie zu alt für den Jugendverband. Als sie als Gewerkschaftsvertrauensmann eine Bandpause für die Arbeiterinnen durchsetzen wollte, überwarf sie sich mit der Parteileitung. „Ich wurde mit 18 SED-Mitglied, war mit 19 Abgeordnete in Lichtenberg. Dachte, ich könne etwas tun gegen die Selbstbedienungsstrukturen bei den Genossen.“ Ihre Ehe zerbricht. Ihre Kinder sind oft krank. Und die Wohnung ist lausig.
Als sie endlich in Marzahn wohnt, beginnt ihre Leidenschaft. „Es war in der Kaufhalle. Ein Troß kleiner, schwarzhaariger Menschen. Alle gleichgekleidet. Die Männer mit so grünen Armeejacken, die Frauen mit Sandalen aus Plaste.“ VertragsarbeiterInnen aus Vietnam waren gekommen. Tamara wird Betreuerin für 800 von ihnen. Sie lernt liebe, bescheidene Menschen kennen. „Doch dann wurde mir schon wieder mit Disziplinarmaßnahmen gedroht, wenn meine Kinder weiter in den Heimen ein- und ausgingen. Aus der Betreuungs- wurde zunehmend Kontrollarbeit.“ Tamara Hentschel klärt die auftauchenden Probleme nur noch inoffiziell. In Zusammenarbeit mit einem Arzt gelingt es zu verhindern, daß eine Vietnamesin und ihr in Berlin heimlich zur Welt gebrachtes Baby abgeschoben werden. Als sie sich gegen Korruption wendet – Entscheidungsträger lassen sich 500 Mark bezahlen, damit sie den Vietnamesen Urlaub für eine Heimreise gewähren, und Wachmänner kassieren, wenn Leute erst nach 22 Uhr ins Heim zurückkommen –, wird sie wieder strafversetzt. In ein anderes Heim. In der Beurteilung steht das Wort „Querulant“. Das ist im Oktober 89.
Da verliebt sie sich in einen Vietnamesen (seit anderthalb Jahren ist sie mit ihm verheiratet), und noch im Juni 1990 muß sie zu einer Disziplinaraussprache, weil der junge Mann entgegen dem Staatsvertrag zwischen Vietnam und der DDR bei ihr wohnt. 14 Tage später wird ihr gekündigt.
Sie sucht Kontakte zur Kirche, zu Brandenburgs Ausländerbeauftragter Almuth Berger, sie reist durch die neuen Bundesländer, schlägt in Betrieben Krach, die den VertragsarbeiterInnen keine Abfindungen zahlen wollen. Das Wirken um ein Bleiberecht bestimmt fortan ihr Dasein. Überall sagt sie, was sie denkt. Sie ist unbequem.
Polizeiübergriffe auf Vietnamesen aufgedeckt
Im Sommer vorigen Jahres gründet Tamara Hentschel mit Freunden den „Reistrommel e.V.“, Geld zum Überleben kommt von der Kirche. Zu dieser Zeit weiß sie bereits von Übergriffen durch Polizisten auf Vietnamesen in Bernau und Berlin. Sie trägt Material zusammen. Schaltet Anwälte ein, läßt die andauernden Gewalttätigkeiten von den Geschädigten zu Protokoll geben. Sie versucht Ängste abzubauen, sitzt oft bis Mitternacht in den Wohnheimen, bittet Betroffene, ihre Aussagen zu machen, und sie ringt verzweifelt um Öffentlichkeit, bis zwei Zeitungsartikel die Lawine ins Rollen bringen. So viel müßte getan werden, sagt Tamara Hentschel, was wie ein Beschluß klingt, es demnächst auch zu tun. Die gesundheitliche Betreuung in den Wohnheimen ist unzureichend. Dann wären dort Kondomautomaten wichtig. Und und und.
In Vietnam ist sie übrigens noch nie gewesen. Aber vier Wochen würde sie bleiben wollen, zum Tetfest, wenn das neue Jahr beginnt. „Vorausgesetzt, daß ich Arbeit bekomme, damit ich mir das leisten kann.“ Arbeit also.
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