: Berlin-Blockade noch mal gebrochen
US-Soldaten ließen amerikanische Schokolade auf Berliner hinunterregnen / Hubschrauber „Spirit of Steinstücken“ löste bei 5.000 Erwachsenen und Kindern eine Massenhysterie aus ■ Von Thorsten Schmitz
Am Brandenburger Tor tobte das Leben. Ein Libanese bröselte angebliche Mauerteile in gewinnbringende Portiönchen, die Quadriga wurde zu Tode fotografiert, ein Hochzeitskonvoi blockierte den Taxiverkehr in beiden Richtungen, übergewichtige Rentnerinnen aus Paderborn und ihre scheintoten Ehemänner krochen aus Touristenbussen und ließen sich von Bauchladen-Verkäufern übers Ohr hauen.
Angebliche Sowjetkappen für 35 Mark, angebliche Sowjetfeuerzeuge für 20 Mark, schwarze (schwarze!) Trabi-Imitate für 15 Mark. Umsonst ist normalerweise nichts auf dem Pariser Platz, noch nicht einmal die Erleichterung menschlicher Bedürfnisse. Umsonst – allerdings – regnete am Samstag nachmittag Schokolade vom Himmel. Und zwar Hershey's Milk Chocolate aus Pennsylvania. Weil die Berliner an und für sich leicht glücklich zu machen sind, waren sie in Scharen mit ihren Gören zum Brandenburger Tor gestürmt. Die Schokoladenabwurfaktion war für 17.30 Uhr terminiert. Doch zu der Zeit war noch nichts zu hören.
Dann um 17.37 Uhr kreischte die siebenjährige Anja als erste: „Das isser.“ Tatsächlich knatterte der dienstälteste Berliner US- Hubschrauber „Spirit of Steinstücken“ haushoch über Unter den Linden auf das Denkmal der Deutschen Wiedervereinigung zu. Explosionsartig breitete sich große Aufregung unter den schätzungsweise 5.000 Naschkatzen aus. Viele spannten ihre Regenschirme auf und hielten sie falsch herum gen Himmel. Plötzlich stand der Hubschrauber, der bis August 1972 regelmäßig die 200 Westberliner Seelen der Exklave Steinstücken mit Lebensmitteln und Waschbecken versorgt hat, über gereckten Köpfen in der Luft. US-Soldaten winkten aus dem Helikopter heraus, als würden sie erneut die Berlin-Blockade brechen – und ließen die ersehnten Tafel-Schokoladen an kleinen Fallschirmen auf den Pariser Platz rieseln. Das Geschenk des Himmels verursachte eine mittelschwere Massenhysterie. Kinder kreischten, Erwachsene rempelten, wie bekloppt stürzten sich die Wagemutigsten pulkweise auf die Landeplätze, wohin der Wind die fliegende Schokolade gepustet hatte. Manche Tafeln erreichten ihr Ziel nicht. Sie verhedderten sich in Strommasten und Baumwipfeln.
Fünfmal drehte der Hubschrauber Ehrenrunden über Reichstag und Fernsehturm, fünfmal bescherte er einen kollektiven Herzinfarkt, bis die Polizei per Lautsprecher log: „Die Veranstaltung ist beendet.“
Doch unverhofft kommt oft: Ein allerletztes Mal noch drehte die geistige Blockade eine Pirouette überm Pariser Platz, ließ die letzten von insgesamt 5.000 Fallschirm-Schokotafeln aufs Volk fallen. Wovon eine sich – ätsch – in der Funkantenne eines Polizeiwagens verfing.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen