: Denkort zur Zukunft
Avantgarde-Theater in Deutschland, Teil II: Der Marstall in München vernetzt die Künste und setzt auf ihre seismographische Funktion ■ Von Arnd Wesemann
Der kubusförmige Marstall neben dem Staatstheater in München ist der Außenseiter unter den deutschen Spielstätten. Der Marstall läßt sich weder mit den schicken Produktionsstätten des internationalen Theaters vergleichen, etwa dem Berliner Hebbel-Theater, noch ist er bei den freien Theaterhäusern einzuordnen; eher erscheint er wie das Anhängsel eines Stadttheaters im Stil des Concordia in Bremen. Wie dieser Theaterraum einst eine Keimzelle des deutschen Tanztheaters war, steht der Marstall auf dem Parkplatz der Bayerischen Staatsbühnen heute im Ruf, eine „Forschungsstätte“ zu sein, die weit über das Theater hinaus reflektiert, die Bühne selbst gelegentlich in Frage stellt und die Zukunft der Mimenkunst für das 21. Jahrhundert vehement zu diskutieren bereit ist.
Die Leiterin des Marstalls, Elisabeth Schweeger, hatte sich selbst diesen anspruchsvollen, nachgerade intellektuellen Ort nicht träumen lassen. Statt dessen wäre sie beinahe die sechste Direktorin am Berliner Ensemble geworden. Eberhard Witt, damals Intendant in Hannover und nun am Bayerischen Staatsschauspiel, bat die gebürtige Wienerin, sich die Kodirektion am BE noch einmal zu überlegen. Ein Rentnerball passe nicht zu ihr. Durch Elisabeth Schweeger schuf der sonst eher glücklos mit dem Regienachwuchs agierende Münchner Hausherr der next generation ein eigenes Forum. Als erster in Deutschland bot Witt Avantgarde an – als „vierte Sparte“ – einer staatlichen Schaubühne an.
Elisabeth Schweeger war einst Dramaturgin bei Frank-Patrick Steckel in Bremen. Als sie ging, glaubte sie, das Theater mache keine Kunst. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin wurde Ausstellungsmacherin an der Akademie der Künste in Wien bei Erich Wonder, sie gründete die Wiener Stadtzeitung Falter und legte soeben ihre letzte Ausgabe der Architekturzeitschrift Umriß vor. Mit Gottfried Hattinger entwickelte sie Projekte für das Festival der Ars Electronica in Linz und weiß heute, mit 39 Jahren an das Theater zurückgekehrt, kaum ein Gebiet der modernen Künste, auf dem sie noch nicht zugange war. „Vernetzung der Künste“, sagt sie darum. Das ist ihr Programm. Seit neuestem sagt sie ebenso gerne: „Vernetzung der Institutionen“. Bei knappen Geldressourcen stiftet Elisabeth Schweeger, obschon sie einem Staatstheater angehört, erfolgreiche Koproduktionen mit freien Trägerschaften, zuletzt mit der Münchner Muffathalle und dem benachbarten Aktionsforum Praterinsel; dies, um niemand Geringeren als „Cyberspace“-Papst William S. Burroughs einzuladen und Experten in einer „Serious Chiller Lounge“ vor japanischen Cyberpunk-Videos über die Zukunft der vernetzten Informationsgesellschaft diskutieren zu lassen.
Über gegenwärtige Ästhetiken und politische Situationen zu debattieren erscheint ihr dringender, als ein Spielplansoll zu erfüllen oder Sitzplätze auszulasten. Von solchen Anforderungen halbwegs befreit, konnte sie den Marstall von Anbeginn als eine Bühne behaupten, die unter anderem die Gleichberechtigung aller Kunstformen, der Schauspielkunst, der Musik, der Bildenden Kunst und der neuen Computerkünste, anstrebt. Anläßlich seiner Eröffnung im vergangenen Oktober wurde der ehemalige Reitstall neben dem Bayerischen Staatstheater in dieser Zeitung eine „Sushi-Bar der Avantgarde“ genannt. Seither wurde das Sushi für unverfälscht reine Kunst und die Avantgarde für ein Reflektieren über die Zukunft der Kunst mehrfach selbst in Frage gestellt: scheinbar abseitige Themen wie die Gehirnforschung rückten vor die Suche nach ästhetischen Positionen. Der reine Kunstwille wurde durch ein John-Cage- Konzert programmatisch auch als eine Frage von Lebenskunst formuliert.
Der Eindruck ist nicht falsch, daß im Marstall weniger Inszenierungen entstehen als sonstwo. Während aber andernorts das Publikum mit gebundenen Händen auf Theaterbänken vor einer moralisierenden Theaterkanzel nur das Gemeinte, seltener das Kunst Gewordene erlebt, will Elisabeth Schweeger die möglichen ästhetischen Standpunkte eines tatsächlich heutigen Theaters begreifbar machen. Sie argumentiert von einer Position jenseits der Bühne: Während längst jeder Autor über einen Computer verfüge und jeder Zuschauer über 20 Fernsehkanäle, poche das alte Theater im Namen seiner „Zeitlosigkeit“ zwar zu Recht auf den Wertekanon sozialer Ethik und politischer Kompetenz; doch entstehe dabei der Eindruck, daß die Bühnen, hinter diesen hehren Begriffen geschützt, vor allem ihren Muff von hundert Jahren pflegten. Mit der Kunst der Verführung betreiben die Theater laut Schweeger eine Kunst des Täuschens, die den Blick auf die Gegenwart verstellt. Deutlich werde dies zum Beispiel, wenn die Theater fortwährend eine zeitgemäße Dramatik fordern würden, doch die damit einhergehende Notwendigkeit einer neuen „dramatischen“ Form und einer neuen Schauspielweise übersehen.
Der Marstall könnte dagegensteuern; er will ein Lernort werden, doch keine Lehrstücke anbieten. In der kommenden Spielzeit akzentuiert Elisabeth Schweeger den technologischen Umgang mit der Bühne; einhundert Percussion-Instrumente des Wiener Künstlers Flatz, Opernprojekte von Heiner Goebbels und Alexeij Sagerer mit deutlicher – wenn auch barocker – Maschinenthematik. Das Technische und der Glaube an ein „Gesamtkunstwerk“ Theater bilden zwei Wegmarken des Marstalls auf seiner noch jungen Suche nach einer Kunst, so Elisabeth Schweeger, die sich analog zum digitalen Fortschritt entwickeln müsse. Rechtsruck und erotische Künste – zwei weitere große Themen – sollen in naher Zukunft im Marstall verhandelt werden: eine seismographische Funktion des Theaters statt ausgewogenem Repertoiredenken.
Ihre Recherchen zum Theater des 21. Jahrhunderts vollführt Elisabeth Schweeger nicht im luftleeren Raum. Sie fand heraus, daß „Aida“ oder Broadway-Musicals vor allem solche Sponsoren abstoßen, die vom Fortschritt leben müssen. Solche Firmen suchen bewußt die Laborsituation und das Forschungspotential der Künste. Zwischen der Innovationskraft der Industrie und jener der Künste existiere heute eine Parallele, meint Elisabeth Schweeger, die das Paradigma der Achtziger ablösen könnte, als die Kulturförderung nach dem Erhalt eines attraktiven „Kulturstandorts“ für leitende Mitarbeiter dienen sollte. Heute gelte die Kunst verstärkt wieder als Ideen-Pool für Entscheidungsträger, nicht als schicker MeetingPoint für kulinarisch verwöhnte Manager.
Daß Elisabeth Schweeger dazu die kleinbürgerliche Anatevka-Mentalität landläufiger Theater ablehnen muß, wundert wenig. Ihr Protest gegen die Politikferne der Theater, die höchstens von einer Spielplanaktualität korrigiert wird, die Betroffenheit vorgaukelt, wirkt dagegen überraschend. Ihr hoher Kunstanspruch steht in keinem Widerspruch zur gesellschaftlichen Relevanz des neuen Theaters. Beides zusammen verleiht ihrem Haus derzeit vor allem intellektuellen Glanz. Regelmäßige Technoparties könnn das nur mäßig überdecken.
Nicht das Staunen, sondern die Reflexion überwiegt. Die Kulinarik leidet trotz Bar und sogenannten „Nachtschwärmereien“. Als ein Denkort zur Zukunft der Künste lenkt der Marstall den Blick nicht von ungefähr auf Künstler wie James Turrel und Peter Greenaway. Schweeger steht dazu. Merkmal jeder großen Kunst sei eben nicht zwingend das Entertainment, sondern das Maß ihrer Reflektiertheit.
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