: Pralle Städte, verzerrter Dix
■ Machtlose Comic-Charaktere: In Stuttgart wird die erste Retrospektive des polnischen Malers Edward Dwurnik gezeigt
Bunte Bildwelten, zunächst in Fernsicht: dicht neben- und übereinandergehängt an der Frontseite des Kuppelsaales im Württembergischen Kunstverein. Zwischen grellen Farbflächen treten riesenhafte Karikaturen hervor: schonungslos krud das Gesicht eines „vierzigjährigen Helden“, daneben aufgespießt die Herrenrunde im Anzug, die Augen niedergeschlagen, die Hände übereinandergelegt „Am Hodensack“. Rechts beim Eintritt in den Saal quellen Früchte einer „Zu guten Ernte“ von einer großen Leinwand, gelbe und grüne und rote Rundformen, neben denen die Stadtlandschaft im Hintergrund auf Kleinformat geschrumpft ist. Und weiter hinten im Ausstellungsraum räkelt sich ein Paar auf einem Farbenteppich, der sich langsam als minutiös gestaltete Stadt zu erkennen gibt.
Dwurnik, Jahrgang 1943 und 1982 bereits auf der documenta7 vertreten, malt mit der Hand des Zeichners. Farbe ist eher ein Teil der zeichnerischen Bildauffassung, in der sich, so Dwurnik, immer von neuem eine „soziale Stimmung“ artikuliert: in genrehaften Szenen aus dem Alltag wie in prallen, detaillierten Städtebildern aus der Vogelperspektive. Früh schon hat Dwurnik eine Technik entwickelt, mit deren Hilfe er Spaziergänge durch die Stadt in eine Vorstellung von deren Sicht aus der Luft übertrug. Noch während seiner Studienzeit hatte er die Bekanntschaft des polnischen Realisten Nikifor gemacht und konnte zusehen, wie dieser aus seinem Wagen stieg und gleich auch schon zum Zeichenstift griff. Diese Unentwegtheit eines work in progress ist bis heute im Zyklus „Reisen per Anhalter“ erhalten geblieben, mit dem Dwurnik, angeregt durch Nikifor, seit Mitte der sechziger Jahre ein Panorama Polens entwirft.
Sein Realismus ist konstruktivistisch wie die Städtebilder. Er benutzt realistische Details, um daraus ein comicartiges Bild der Wirklichkeit zu konstruieren: als ästhetische Transformation, die noch den authentischen Gehalt der Gesellschaftsporträts von Beckmann oder Dix verzerren und expressiv überzeichnen oder die es ins zeichenhaft Allegorische hineintreiben wie in dem Zyklus „Lang lebe der Krieg“. Dort schweben die Köpfe der heldenhaften Kämpfer in einem abstrakten Farbraum – zu martialischen Masken erstarrt.
Dabei malt Dwurnik mit dem Auge des Analytikers, greift herrschende religiöse und nationale Vorstellungen auf und stellt dem real existierenden Sozialismus der siebziger und achtziger Jahre immer wieder die Diagnose, daß eine gewaltige Kluft zwischen Ideologie und Wirklichkeit herrscht. Er scheut sich nicht vor dem allzu Demonstrativen – ein lesender Bürger wird hinterrücks erschossen –, konstruiert seine Bildräume aber in einer Maltechnik, die um die Bilduntersuchungen der Moderne weiß: Ein „Freundschaftsbild“ stellt neben die Köpfe von van Gogh und Picasso auch diejenigen von Richard Serra, Sigmar Polke oder Hanne Darboven. Dwurnik vergrößert und verkleinert, bleicht einen Teil der Szenerie aus ins Schwarzweiße, so daß zwei Bildschichten entstehen, Fläche und Tiefe sich verquicken zu einem inhomogenen Bildraum. Riesige Denkmalsköpfe tauchen auf, teilen das Bild in einen gespenstischen Vordergrund und die bunte Alltagswelt des Hintergrundes. Auf diese Weise stellt der zeichnende Maler auch Kontakte zwischen Bild- und Museumsraum her, indem er seine in den Vordergrund gerückten Figuren den Betrachter anblicken läßt, sie abhebt als grinsendes und aggressives Gegenüber. Zugleich zeigt er die Menschen immer wieder vor Mauern und Wänden, schneidet sie gewissermaßen aus vor der Architekturkulisse. Menschen und Dinge scheinen übereinandergelagert: Die Figuren sitzen wie Comic- Charaktere in einer Welt, derer sie nicht mächtig sind, allegorisch- symbolisch in den „Zehn Stationen einer profanen Kreuzigung“ oder satirisch-skurril im „Sport-Raucher“-Zyklus, der nach der billigsten Zigarette in Polen benannt ist.
Eine Anekdote im Katalog belegt Dwurniks eigenwillige Vorstellung eines konstruktivistischen Bildentwurfs: Als er eines Tages das Gesims eines Hauses zeichnete, endeckte er, daß sich aus der Abfolge von Strichen alles entwickeln ließ, was in seinen Bildern später wichtig wurde: eine Stadt, eine Welt. Reiner Bader
Bis 21.8. im Württembergischer Kunstverein/Stuttgart. Der Katalog kostet 38 DM.
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