: Freie Fahrt für die Computer
Telematik: Ein riesiges Investitionsprogramm für die Auto- und Computerindustrie / Der Umwelt hilft die Technik nicht ■ Von Lorenz Redicker
Ein Zauberwort geht um in Vorstandsetagen und Ministerialbüros. Es weckt Hoffnungen auf neue Märkte, riesige Umsätze und Milliardengewinne, es soll Staus im Nichts verschwinden lassen und die Umwelt schonen. Sein Name: Telematik – ein Kunstwort, entstanden aus den Begriffen Telekommunikation und Informatik.
Telematik bezeichnet die Computerisierung des Verkehrs auf Straßen, auf Schienen und in der Luft. Inzwischen ist die Vision den Kinderschuhen entwachsen: Nach nur wenigen Jahren intensiver Forschung und Erprobung wird in Berlin das Verkehrsleitsystem „Copilot“ installiert. An Verkehrsknotenpunkten, vornehmlich in Ampelanlagen, werden Infrarotbaken, Sender und Empfänger, eingebaut, die mit einem elektronischen Kasten im Auto und einem zentralen Verkehrsleitrechner kommunizieren. Auf Grundlage der gesammelten Daten – Standorte und Ziele der Fahrzeuge – erzeugt der Rechner beständig ein Verkehrslagebild und gibt Empfehlungen über die weitere Strecke oder freie Parkplätze an die Autofahrer zurück. Wenn die Straßen verstopft sind, rät er zum Umsteigen in die S-Bahn oder den Bus.
Die Betreiberfirma, die „Copilot GmbH & Co KG“, ist erst im Juli dieses Jahres von Siemens, Bosch, der Daimler-Tochter „ITF Intertraffic“ (je 31,8 Prozent Anteil) sowie Mercedes-Benz (3,6 Prozent) und Volkswagen (1 Prozent) ins Leben gerufen worden. Gerade 30 Männer und Frauen beschäftigt das Unternehmen im Münchner Stadtteil Unterhaching. Dennoch glaubt Geschäftsführer Thomas Koegler, daß sämtliche Ballungsräume der Republik bis 1998 Copilot einsetzen werden.
Die Hoffnung ist nicht unbegründet. Für die finanzschwachen Kommunen hat das System einen unschätzbaren Vorteil: Es kostet sie nichts. Die Investitionen zahlt Copilot. In Berlin muß das Münchner Unternehmen 20 Millionen Mark für seine Baken und Rechner hinblättern. Das Geld holt es sich über eine Gebühr bei den Autofahrern wieder ab. 25 Mark sollen die Berliner für die elektronischen Verkehrslenkung monatlich überweisen. Dazu kommen noch einmal etwa 2.000 Mark für die Computerbox im Auto, die zur Zeit nur von Siemens unter dem Namen „Euroscout“ gebaut und vertrieben wird. Zwangsverpflichtet wird aber niemand. „Wer nicht mitmacht, fährt eben weiter in den Stau“, wirbt Koegler für sein Produkt.
Copilot funktioniert selbst dann, wenn nur ein Prozent aller Autos mit einer Euroscout-Box aufgerüstet werden. Auf ein bißchen mehr hofft Koegler schon: Vier bis fünf Millionen Teilnehmer allein in Deutschland hat eine Marktstudie für das Jahr 2005 vorausgesagt. Bis dahin muß das Gemeinschaftsunternehmen tief in die Tasche greifen: 750 Millionen Mark fallen an, um die Republik flächendeckend – soll heißen: alle größeren Städte und die Autobahnen – mit Infrarotbaken und Leitrechnern zu überziehen. Eine lohnende Anlage: Das Geld wäre bei 25 Mark Gebühr in spätestens acht Monaten wieder eingespielt.
Mit dem elektronischen Verkehrswarndienst RDS-TMC ist ein weiteres System auf dem Weg in den Markt. Ab 1995 soll er europaweit jederzeit abrufbare Verkehrshinweise auf einem Display zur Verfügung stellen – sofern das Autoradio mit einem Zusatzgerät und Decoderkarte (Preis: etwa 150 Mark) ausgestattet ist. Auf dem Kölner Ring werden seit einigen Monaten elektronische Gebührenerfassungssysteme erprobt, die 1998 bundesweit eingeführt werden sollen. Und in Stuttgart beteiligt sich die Crème de la Crème der deutschen Industrie am Projekt „Storm“, daß vom regionalen Verkehrsleitsystem bis zum Flottenmanagement für Lkw reicht und auch Verspätungen bei Bahnen anzeigt – damit niemand mehr den Anschlußbus verpaßt?
Zum eifrigsten Fürsprecher der neuen Technik hat sich Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann aufgeschwungen. Von der Telematik erhofft er sich weniger Staus, weniger Unfälle und eine bessere Stadtluft. Der Verweis auf die „intelligente Straße“ dient dem Christdemokraten als Argument gegen Tempolimits und andere Beschränkungen für der Deutschen Lieblingsspielzeug.
Doch an solche Vorteile will nicht jeder glauben. „Hier soll mit teurer Technik erreicht werden, was wir viel einfacher und billiger haben könnten“, klagt Burkhard Reinartz, Sprecher des umweltorientierten Verkehrsclub Deutschland (VCD). Während Leitsysteme und elektronische Maut den Verkehr lediglich verlagern, könnten konsequente Tempolimits Staus verhindern, höhere Spritpreise unnötige Autofahrten vermeiden.
Verteufeln will Reinartz die Technik nicht. „Im Detail kann es Verbesserungen geben“, so durch das Flottenmanagement, mit dem Lkw-Leerfahrten vermieden werden. Das geplante Leitsystem für die europäischen Eisenbahnen erhöht die Kapazität des Schienennetzes um 40 Prozent. „Den Zuwachs des Autoverkehrs aber wird die Telematik nicht begrenzen“, glaubt der VCD-Mann. Denn die angestrebte bessere Auslastung der Straßen bedeute eben vor allem, daß dort mehr Autos fahren werden.
Solche Erkenntnis hält die Verfechter der elektronischen Aufrüstung von Auto und Straße nicht auf. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) hat für Telematiksysteme in Europa ein Marktvolumen von 200 Milliarden Mark bis zum Jahre 2010 errechnet. Verlockende Aussichten. Bonn bereitet den Rahmen, sorgt für die Angleichung der Technik innerhalb Europas und hält sich sonst dezent zurück. In einem Papier des Bundesverkehrsministeriums heißt es lapidar: „Diskussionen über die Vor- und Nachteile der Telematik sind nicht Sache der Politik. Hier muß der Wettbewerb entscheiden.“
Immerhin hat die Telematik- Forschung die Steuerzahler bislang zwei Milliarden Mark gekostet. Die SPD schweigt sich aus, weil, so vermutet Reinartz, „sie Angst vor dem Vorwurf der Technikfeindlichkeit hat“.
Ob die AutofahrerInnen sich über die elektronische Verkehrswelt freuen werden, wird sich noch zeigen. Innerhalb der Forschungsprogramme „Prometheus“ und „Drive“ sind „Fahrerassistenzsysteme“ entwickelt worden, die bei Glätte die Motorleistung drosseln oder das Steuer selbst in die Hand nehmen, wenn der Wind allzu kräftig von der Seite bläst. Detektoren könnten den Bordcomputer vor Hindernissen warnen und zur elektronischen Vollbremsung veranlassen. Auch an der computergestützten Kolonnenfahrt wird gearbeitet. Da deutet sich die Entmündigung des Autofahrers an, und somit ganz unerwartet das Ende der „freien Fahrt für freie Bürger“.
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