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„Hauptberuflich Lebensschützer“

Kampagne militanter Abtreibungsgegner gegen einen Frauenarzt in Mississippi  ■ Aus Gulfport Andrea Böhm

Er kommt dahergeschlendert wie ein Tourist auf dem Weg zum Nationalpark oder zur Freiheitsstatue. Die Füße stecken in bequemen Turnschuhen, über dem leicht gerundeten Bauch baumelt eine Kamera, ein Golfhut schützt das blasse Gesicht gegen die glühende Sonne. Andrew Burnett spricht so leise, daß man sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie dieser Mann hysterisch schreiend Klinikeingänge blockiert oder fremde Männer und Frauen als „Kindermörder“ beschimpft.

Doch weil eben dieser Andrew Burnett mit einer Handvoll Mitstreiter sein Erscheinen vor einer Frauenklinik in der Hafenstadt Gulfport an der Küste Mississippis angekündigt hat, ist die Polizei in Alarmbereitschaft. Seit 6 Uhr morgens haben an diesem Montag Polizisten den Eingang zum Haus mit der Nummer 11380 an der Three Rivers Road in Gulfport abgeriegelt. Uniformierte stellen Barrikaden auf, Bundesbeamte in Zivil, ganz dem Klischee entsprechend mit Spiegelbrillen und ausgebeulten Jacketts, murmeln in ihre Sprechfunkgeräte. Kurz vor 8 Uhr wird das stacheldrahtbewehrte Eingangstor für einen Wagen geöffnet. Das Auto bremst vor der Haustür, heraus springen mehrere Polizeibeamte und ein kleiner, zierlicher Mann mit einer kugelsicheren Weste und einem Flakhelm auf dem Kopf. Joseph Booker, Betreiber der „Gulfcoast Women's Clinic“ und der einzige Gynäkologe im Bundesstaat Mississippi, der noch Schwangerschaftsabbrüche durchführt, hat seinen Arbeitstag begonnen.

Seit über einer Woche steht Booker unter dem Schutz der „US- Marshalls“. Eine entsprechende Anweisung von US-Justizministerin Janet Reno war zwei Tage nach dem Mord an dem Gynäkologen John Britton und seinen Begleiter James Barrett durch den Abtreibungsgegner Paul Hill in Pensacola, Forida, ergangen. Nicht, daß Britton leichtsinnig gewesen wäre: Der 69jährige Arzt trug eine kugelsichere Weste, weil er um das Schicksal seines unmittelbaren Vorgängers wußte: Dr. David Gunn war knapp anderthalb Jahre zuvor in Pensacola von einem fanatischen Abtreibungsgegner ermordet worden. Doch Hill zielte am Morgen des 29. Juli auf dem Parkplatz der „Ladies' Center Clinic“ nicht auf die Brust, sondern auf den Kopf. Seitdem trägt Booker einen Helm.

Hundertprozentigen Schutz gegen Attentate können ihm weder die bürgerkriegsähnliche Ausrüstung noch die Präsenz der US- Marshalls garantieren – auch wenn diese anscheindend nichts dem Zufall überlassen. Sie eskortieren den 50jährigen auf dem Weg nach Hause und zur Arbeit, zum Einkaufen und zur Bank. Sie überprüfen Journalisten, die mit ihm reden wollen, untersuchen seine Post nach möglichen Briefbomben und durchforsten die nähere Umgebung nach Verstecken für Scharfschützen. Und sie beobachten mißtrauisch die Demonstranten, die sich mit metergroßen Transparenten und Fotos menschlicher Föten vor der Klinik eingefunden haben: „Betet für das Ende der Abtreibungen“ steht da zu lesen. Oder: „Abtreibung ist der amerikanische Holocaust.“

Seit diesem Montagmorgen ist Booker Ziel einer Kampagne der „American Coalition of Life Activists“ (ACLA) mit dem Titel „No Place To Hide“, die am Wochenende zu Ende ging. Sinngemäß übersetzt heißt das an die Adresse des Arztes: „Wir finden Dich überall.“ Dahinter verbirgt sich die Strategie, den Arzt und seine MitarbeiterInnen auf Schritt und Tritt zu verfolgen und sie als „Baby- Killer“ anzuprangern. „Die Frage ist nicht, ob wir ihn zur Aufgabe bewegen können“, heißt es im ACLA-Aufruf. „Die Frage ist, ob wir ein Klima schaffen können, in dem keiner mehr seinen Platz einnehmen will, wenn er erst einmal aufgegeben hat.“

Solche Kampagnen fallen für Andrew Burnett unter das unveräußerliche Recht auf Meinungsfreiheit. Er habe, sagt er leise, aber bestimmt, in seinem ganzen Leben noch niemanden bedroht – und wie zum Beweis zieht er eine schriftliche „Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit“ hervor, die jedes ACLA- Mitglied vor Beginn der Kampagne unterzeichnen mußte. „Ich werde Gewaltakte gegen den Kindermörder, seine Mitarbeiter, die Polizei oder andere Unterstützer weder planen noch an ihnen teilnehmen oder andere zur Ausführung anheuern“, heißt es da.

Doch ACLA-Mitglieder haben während ihrer Laufbahn als „Lebensschützer“ schon ganz andere Sachen unterschrieben – unter anderem eine Erklärung, wonach jede Form von Gewalt zum „Schutz ungeborenen Lebens“ legitim sei. Autor dieser Deklaration ist eben jener Paul Hill, der nun in Pensacola auf seinen Prozeß wartet. Die Liste der Unterzeichner gleicht einem „Who's who?“ des radikalen Flügels der amerikanischen „Pro Life“-Bewegung: Pastor Matt Trewhella, Gründer der „Missionare für das ungeborene Leben“ in Wisconsin; Roy McMillan, Direktor der „Christian Action Group“ in Mississippi; Mike Bray, Pastor der „Reformation Lutheran Church“ in Maryland, der bereits wegen eines Bombenanschlags auf eine Frauenklinik vorbestraft ist; Joseph Foreman, einer der prominentesten und eloquentesten Sprecher der Bewegung, der nun als Direktor von ACLA amtiert; und Andrew Burnett.

Alle Unterzeichner haben mit Hill kooperiert – und alle wollen eine klare Distanzierung von seiner Mordtat nicht so recht über die Lippen bringen. Überrascht sei er gewesen, sagt Burnett, als er von der Tat gehört habe. „Ich hätte nicht gedacht, daß er das tut, weil er doch Frau und drei Kinder hat. Um die Familie mache ich mir jetzt Sorgen.“

Bis vor zehn Jahren war Andrew Burnett ein Bauunternehmer in Portland im Bundesstaat Oregon. Das Geschäft ging gut, das eigene Haus und die College-Ausbildung für die Kinder schienen gesichert. Politisch hat er sich nie engagiert. Seinen Unmut über den „moralischen Verfall“ des Landes trug er jeden Sonntag in die Kirche seiner Baptistengemeinde, wo Gottes Strafe für die Sünder und Gnade für die Reuigen verkündet wurde. Im Sommer 1984 überredete ihn ein Freund, an einer Protestkundgebung gegen eine Frauenklinik in Portland teilzunehmen, in der Abtreibungen vorgenommen wurden. Da, sagt er, habe er beim Anblick von Fotos abgetriebener Föten „zum ersten Mal begriffen, was Kindern und Frauen angetan wird“.

Während Andrew Burnett an der Westküste in die lokale „Pro Life“-Gruppe einstieg, demonstrierte im gleichen Jahr ein 24jähriger Gebrauchtwagenhändler namens Randall Terry in New York erstmals gegen den „Massenmord an Babies“. Zwei Jahre später gründete Terry „Operation Rescue“, eine Gruppe, die sich gerne als Nachfolgerin der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gerierte, wobei Terry allerdings ein sehr eigenwilliges Verständnis von zivilem Ungehorsam an den Tag legte: Lobet den Herren und attackiert die Frauen. „Bürgersteigberatung“ nennen es seine AnhängerInnen, wenn sie Patientinnen auf dem Weg in Praxen und Kliniken verfolgten, ihnen „Mami, Mami, bring mich nicht um“ entgegenriefen oder Namen und Adressen der Frauen ausfindig machten, um die Abtreibung in ihren Heimatorten publik zu machen.

Auch Andrew Burnett wurde vom Gelegenheitsdemonstranten zum reisenden Aktivisten, der an zahlreichen „Rescues“, sogenannten „Rettungseinsätzen“, im ganzen Land teilnahm. „Ein Rettungseinsatz“, erklärt er, „besteht darin, daß man die Frauen daran hindert, die Klinik zu betreten, und somit Zeit gewinnt, an ihr Gewissen zu appellieren.“ Die Bewegung, unterstützt von und vernetzt mit zahlreichen Organisationen der christlichen Rechten, fand schnell Zulauf. „We shall overcome“ wurde zu ihrer Hymne, Massenfestnahmen bei Blockaden zu ihrem Markenzeichen. Mindestens fünfzigmal sei er in den letzten zehn Jahren verhaftet worden, sagt Burnett mit einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz, als fürchte er, der Prahlerei bezichtigt zu werden.

Inzwischen haben zahlreiche Bundesstaaten Klinikblockaden verboten; Frauengruppen wie die „National Organization For Women“ oder die „Feminist Majority Foundation“ haben AktivistInnen aus ihren Reihen zu „Clinic Defense Teams“ ausgebildet, die Patientinnen an schreienden oder betenden Abtreibungsgegnern vorbei in die Klinik eskortieren. Gerichte verhängen mittlerweile härtere Geld- und Gefängnisstrafen. Auch Burnett hat für den Verstoß gegen eine richterliche „Bannmeile“ um eine Frauenklinik vier Monate Gefängnis abgesessen. Nach seiner Entlassung mußte der Vater von mittlerweile fünf Kindern sein Unternehmen schließen und Bankrott anmelden. „Seitdem bin ich hauptberuflich Lebensschützer.“ Seine Familie ernährt er durch Spenden aus der „Pro Life“-Bewegung und den mageren Einnahmen aus dem Vertrieb einer Anti-Abtreibung-Zeitschrift.

Die Gesetzesverschärfungen haben Wirkung gezeigt: Die Zeiten, da sich Tausende für Klinikblockaden mobilisieren ließen, sind vorbei. Doch die „Lebensschutz“-Bewegung hat ihre Strategie angepaßt, ihre Aktionen dezentralisiert und eine Gruppe ganz gezielt für ihre Kampagnen herausgegriffen: GynäkologInnen. In 84 Prozent aller counties, wie die Landkreise in den USA genannt werden, gibt es keinen Arzt und keine Klinik mehr, die Schwangerschaftsabbrüche als Teil der Gesundheitsversorgung für Frauen anbieten. Wer Abtreibungen durchführt, tut es heimlich. In den Bundesstaaten South Dakota und North Dakota steht nur noch ein Arzt für solche Eingriffe zur Verfügung. In Mississippi waren es 1992 noch acht Mediziner, heute steht Joseph Booker alleine da.

Unter den Patientinnen sind am härtesten arme Frauen betroffen: Weil Kliniken und Arztpraxen hohe Summen in Sicherheitsanlagen und Bodyguards investieren mußten, ist der Preis für eine Abtreibung von rund 250 Dollar auf über 300 Dollar gestiegen. Je weniger Ärzte zur Verfügung stehen, desto länger und teurer wird die Anfahrt. Zwingt dann noch, wie in Mississippi, ein Gesetz die Frauen nach Ankunft in der Klinik dazu, noch einmal 24 Stunden die Entscheidung für den Abbruch zu überdenken, kommen Motelkosten hinzu.

Für Joseph Booker sind Wartefristen und andere gesetzliche Einschränkungen Teil des politischen Klimas, in dem die „Pro Life“-Bewegung ganz hervorragend gedeihen kann. Seit Eröffnung seiner Klinik in Gulfport vor anderthalb Jahren ist er in der Hafenstadt am Golf von Mexiko mit ihrer bizarren Mischung aus Spielcasinos, Industrieanlagen und Kirchen eine Persona non grata. Man wirft ihm tote Fische vor die Haustür, schikaniert seine Patientinnen; man hat nicht nur ihn, sondern auch seine geschiedene Frau und seinen 11jährigen Sohn bedroht; die benachbarte „First Temple Baptist Church“ hat neben seiner Klinik eine Dauermahnwache eingerichtet, die Autofahrer zum „Honking For Life“, „Hupen für das Leben“ auffordert. Der Geräuschpegel läßt auf rege Beteiligung schließen.

Booker ist überzeugt, daß John Britton nicht das letzte Mordopfer auf seiten der Ärzte gewesen sein wird. Er weiß, daß auf der gegenüberliegenden Seite Leute stehen, die ihn aus vollster Überzeugung für einen der Hauptschuldigen am „Holocaust gegen das ungeborene Leben“ halten und in Mississippi auf dem Weg zu einer „christlichen Zivilisation“ eine „abtreibungsfreie Zone“ errichten wollen.

Aber Booker läßt an diesem Montag den Demonstranten draußen ausrichten, daß er eine Gegenkampagne mit dem Titel „No Plans To Hide“ startet, was sinngemäß heißen soll: „Ich habe gar nicht vor, mich zu verstecken.“ Die Frage ist, wie lange er es aushält, jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit einen Flakhelm aufzusetzen.

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