: Schläft da ein Riese?
Eine komplette Überholung des amerikanischen Gesundheitswesens hatte Bill Clinton vor seiner Wahl zum US-Präsidenten versprochen. Ärzte, Versicherungen und Pharmaindustrie tun alles, um die Reform zu verhindern ■ Aus Washington Andrea Böhm
Viel schlimmer kann es eigentlich nicht mehr kommen: Bill Clintons Popularität ist im Keller; Hillary Clinton ist von den vergangenen achtzehn Monaten so erschöpft, daß sie laut Presseberichten von Reformprojekten die Nase voll hat und in der nächsten Zeit nur noch Tochter Chelsea, und nicht mehr dem ganzen Land, bei den Hausaufgaben helfen will; die parteipolitisch aufgeblasene „Whitewater“-Affäre um ein umstrittenes Geldanlageprojekt der Clintons wird voraussichtlich in den nächsten Tagen zum Rücktritt des stellvertretenden Finanzministers Robert Altman führen; Bill Clinton ist der erste Präsident der US-Geschichte, gegen den eine Zivilklage wegen sexueller Belästigung bei Gericht anhängig ist; das Justizministerium untersucht Vorwürfe gegen seinen Landwirtschaftsminister Mike Espy, der sich von Amerikas größtem Hühnchenzüchter Don Tyson Eintrittskarten zum Footballspiel hat schenken lassen; die Ratifizierung des Gatt-Freihandelsabkommens im Kongreß steht auf des Messers Schneide; Bill Clintons Gesetzesvorlage zur Verbrechensbekämpfung ist letzte Woche von der Opposition und einigen Demokraten im Repräsentantenhaus mit einem Verfahrenstrick vom Tisch gefegt worden; Clintons gesamter Reformfahrplan ist damit völlig durcheinander geraten; die Verabschiedung einer Gesundheitsreform noch in diesem Jahr ist gefährdet, Konsens wird sich bestenfalls für einen Kompromiß herstellen lassen, der mit dem Wort „Reform“ nicht mehr allzuviel zu tun hat; viele Wahlexperten prophezeien den Demokraten bei den Kongreßwahlen am 8. November einen Verlust der Mehrheit im Parlament.
Last, not least: Seit letzten Freitag streiken die Baseballspieler. Dafür kann Clinton nichts. Aber, so schwärmte unlängst Bernie Dardis, Mitglied des Parteivorstandes der Republikaner, seine Partei habe selten eine demokratische Partei und Administration erlebt, die „so viele Zielscheiben angeboten“ habe. „Seit Bagdad ging's uns nicht mehr so gut wie jetzt.“ In diesem politischen Klima kann man Bill Clinton auch die Schuld am Baseballstreik anhängen.
Die komplette Überholung des amerikanischen Gesundheitswesens war das große Reformprojekt, mit dem die Clintons im November 1992 die Wahlen gewonnen hatten. Daß nun ein Scheitern möglich erscheint, wäre selbst vor sechs Monaten noch undenkbar gewesen. „Krankenversicherung für alle“ – das galt als Slogan einer neuen sozialpolitischen Ära in den USA.
Gattin Hillary mit diesem Jahrhundertwerk zu beauftragen wurde zwar von einer kleinen Minderheit als „Nepotismus“ kritisiert. Doch die Mehrheit hielt es für eine geniale Demonstration ehelicher Arbeitsteilung für eine gute Sache. Wer auch immer es wagte, gegen eine Reform die Stimme zu erheben, der erhielt aus dem Weißen Haus einen kleinen Intensivkurs durch das amerikanische Gesundheitswesen: In den USA gibt es keine gesetzliche Krankenversicherung. Folglich sind 37 Millionen Menschen ohne Versicherungsschutz. Jeden Monat verlieren zwei Millionen Amerikaner kurz- oder längerfristig ihre Krankenversicherung, weil sie entweder arbeitslos werden oder einen Job annehmen, der keine Sozialleistungen garantiert. Und jeden Monat verlieren Tausende ihren Versicherungsschutz, weil sie krank werden und die Versicherungen sie mit legalen Tricks aus den Verträgen herauskicken.
Die Unmenschlichkeit dieses Systems allein hätte kaum ausgereicht, um die Forderung nach einer Reform politisch salonfähig zu machen. Doch Clinton hatte auch zahlreiche Ökonomen und zahlreiche große Arbeitgeber des Landes auf seiner Seite, denn das bisherige System kommt die amerikanischen SteuerzahlerInnen teuer. Die USA verwenden 14 Prozent des Bruttoinlandprodukts auf das Gesundheitswesen, und die Ausgaben für die staatlichen Versicherungsprogramme „Medicaid“ (für Arme) und „Medicare“ (für Senioren) vergrößern das Haushaltsdefizit immer mehr.
Der Hauptgrund: Es gibt keine Kostenkontrolle. Überflüssige Röntgenaufnahmen, Bypass-Operationen oder EKDs sind ebenso an der Tagesordnung wie die Berechnung von 17 Dollar für eine Aspirintablette im Krankenhaus. Der so Geschröpfte kann sich damit trösten, daß er die Kosten mitträgt, die Amerikas Hospitäler bei ihren unversicherten Patienten nicht mehr eintreiben können.
Es profitieren: Ärzte, Pharmakonzerne, viele Krankenhausbetreiber und die Versicherungskonzerne. Solange letztere ihre Profite durch Beitragserhöhungen garantieren können, erscheint ihnen jeder Reformversuch als Kriegserklärung.
Es zahlen drauf: private Arbeitgeber – in der Regel mittlere und große Firmen –, die ihren Arbeitnehmern eine Krankenversicherung als Teil der Sozialleistungen anbieten; einzelne, die aufgrund einer Krankengeschichte mit hohen Beiträgen und astronomischen Eigenbeteiligungen belastet werden.
Es bleiben außen vor: Arbeitnehmer in kleinen Betrieben, die es sich nicht leisten können, den Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung zu zahlen; Inhaber von Niedriglohnjobs ohne Sozialleistungen; und all jene Amerikaner, die nach oft willkürlichen Kriterien von Versicherungskonzernen in eine „Risikogruppe“ eingestuft und gar nicht – oder nur mit zahlreichen Ausschlußklauseln – versichert werden.
Nun sind Sozialreformen immer vertrackte Angelegenheiten und somit schlecht tauglich für Wahlkampagnen, doch in diesem Fall schienen die Rollen wie in einem Hollywoodskript verteilt: die Bösen saßen in den Wolkenkratzern der Versicherungsfirmen wie „Prudential“ oder Pharmakonzerne wie „Merck“; die guten, rechtschaffenen Bürger waren ihnen ausgeliefert – doch aus Arkansas nahte Rettung in Gestalt zweier smarter Baby-Boomer.
Nun, anderthalb Jahre später, ist offenbar ein völlig anderes Skript in Umlauf. Den versprochenen „Versicherungsschutz für alle“, auf dem der Clinton-Plan basierte, wird es nicht geben. Bestenfalls wird ein Kompromißvorschlag verabschiedet, der Krankenversicherung für 95 Prozent aller Bürger bis zum Jahr 2002 vorsieht. Damit stünden Millionen von Amerikanern zweifellos weit besser da als heute.
Doch auch dieser Gesetzentwurf wird voraussichtlich durch weitere Kompromisse aufgeweicht. Nach dem Clinton-Plan sollen in einem Standard-Versicherungspaket medizinische und therapeutische Leistungen wie Entzugsprogramme für Suchtkranke, psychiatrische Behandlung oder Schwangerschaftsabbrüche enthalten sein. Gegen alle drei Punkte regt sich massiver Widerstand im Kongreß.
Am meisten Protest erregten jedoch zwei Punkte in Clintons Vorschlag: Erstens sollten alle Amerikaner in Zukunft ihre Krankenversicherung über staatlich eingerichtete „Regionalallianzen“ abschließen. Diese Regionalbüros würden als eine Art Vermittler oder Zwischenhändler fungieren und ein gewisses Maß an Kostenkontrolle ausüben. Zweitens sollten unter dem Stichwort employer mandate alle Arbeitgeber, also auch kleine Betriebe, gezwungen werden, sich mit 80 Prozent an der Krankenversicherung ihrer Arbeitnehmer zu beteiligen, die die restlichen 20 Prozent aufzubringen hätten. Für kleine, finanzschwache Betriebe sah der Plan Subventionen vor.
Die republikanische Opposition sah damit – ebenso wie für die Versicherungslobby – den Tatbestand der „Verstaatlichung“ und der „sozialistischen“ Gesundheitsversorgung erfüllt. „Harry und Louise“, ein sorgenerfülltes weißes Paar aus Suburbia, malte in Fernseh-Werbespots der Versicherungslobby Abend für Abend aus, was da Finsteres auf das Land zukam: Weder Versicherung noch den Arzt würde man selbst auswählen können, und die Leistungen würden eingeschränkt.
Und aus dem Munde des republikanischen Senators Phil Gramm, dem man ab und an Ambitionen auf die Präsidentschaftskandidatur 1996 nachsagt, hörte sich der Clintonsche Vorschlag an wie ein Angriff aus dem Weltall, dem „er sich mit allen Mitteln“ entgegenstemmen muß. „Ich weiß, daß es Bill Clintons Traum ist, die Kontrolle über das Gesundheitswesen zu übernehmen. Die Zukunft Amerikas steht auf dem Spiel.“
Längst ist abzusehen, daß es weder für die Regionalallianzen noch für das employer mandate im Kongreß eine politische Mehrheit geben wird. Weil die Chancen für eine effektive Preiskontrolle und eine staatliche Regulierung der Versicherungs-, Medizin- und Pharmaindustrie so gering geworden sind, signalisiert inzwischen auch die Wall Street Entwarnung: Die Aktienwerte von Pharmakonzernen wie „Merck“, die in Erwartung einer weitreichenderen Reform bis Mai 1994 gesunken waren, zeigen wieder steigende Tendenz.
Was das Parlament von der Gesundheitsreform letztlich noch übrigläßt, ist derzeit noch nicht abzusehen, zumal das Repräsentantenhaus vor wenigen Tagen die Vorlage Clintons zur Verbrechensbekämpfung gekippt hat – was seine Position weiter beschädigte. Die Konservativen hatten es sich zum Ziel gesetzt, unbedingt zu verhindern, daß ein Präsident der Demokraten mit einem streckenweise erzkonservativen „Law and order“-Paket, das wiederum einigen demokratischen Abgeordneten unannehmbar schien, traditionell republikanisches Terrain besetzt. Damit ist es der Opposition auch gelungen, den gesamten Fahrplan für Clintons Reformvorhaben durcheinanderzubringen. Mittlerweile wird spekuliert, daß es dieses Jahr überhaupt nicht mehr zur Abstimmung über health care kommt.
Die aktuelle politische Krise paßt natürlich ins Bild eines angeschlagenen, von persönlichen Skandalen und Skandälchen belasteten Präsidenten, der zudem zu opportunistischen Wendemanövern neigt – wenn der politische Druck nur hoch genug ist –, die seine Berater schwindlig machen. Doch zunächst spielen zwei ganz andere Gründe eine wichtige Rolle, die man beide unter dem Titel „Reagans Rache“ zusammenfassen könnte:
Zum einen spürt Clinton bei allen Reformprojekten die Folgen der Reaganschen Verschuldungspolitik. Reformen – auch wenn sie sich langfristig rechnen und volkwirtschaftlich lebensnotwendig sind – kosten kurzfristig viel Geld. Die Kassen aber sind leer. Über ein umfassendes staatliches Ausgabenprogramm auch nur nachzudenken würde sofort den Zorn der Wall Street wecken und die Demokraten wieder mit ihrem alten Stigma der „Steuergeldverschwender“ behaften. Womit man beim zweiten Teil der „Reaganschen Rache“ wäre: Es hat sich der Glaube als Irrtum erwiesen, daß mit der Wahl Clintons auch ein Wandel der politischen Kultur eingeläutet worden wäre, wonach der Staat nicht mehr als der potentielle Feind des Volkes und staatliche Politik nicht als unerwünschter Eingriff in das Leben der Bürger angesehen wird.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die scheinbar widersprüchlichen Meinungsumfragen erklären, wonach eine Mehrheit der Amerikaner zwar Versicherungsschutz für alle wünscht, aber keine Kostenkontrolle durch staatliche Maßnahmen.
Ein weiterer ausschlaggebender Grund für die fortschreitende Demontage der Gesundheitsreform liegt am Geld, das in den Kongreß fließt. Nach Angaben der „Watchdog“-Gruppe „Citizens Action“ haben Interessengruppen in den vergangenen achtzehn Monaten Spendengelder in Höhe von über 24 Millionen Dollar an die Adresse von Kongreßabgeordneten überwiesen. Am großzügigsten teilen die Berufsverbände der Ärzte, die „American Medical Association“ und die „American Dental Association“, die Pharmakonzerne „Eli Lily & Co und „Pfizer Inc.“ sowie diverse Interessenverbände der Versicherungsindustrie aus.
Spitzenreiter auf seiten der Empfänger sind Abgeordnete und Senatoren, die in einflußreichen Ausschüssen sitzen, Gesetzesvorlagen verzögern, umformulieren oder gar blockieren können. Die Macht der Lobbygruppen, so argumentiert die Verbraucherschutzorganisation „Public Citizen“, sei nicht nur dafür verantwortlich, daß bestehende Reformvorschläge gekippt würden. Sie habe auch dafür gesorgt, daß die Diskussion über radikalere Optionen, wie zum Beispiel das in Kanada praktizierte, rein staatliche Versicherungssystem, gar nicht erst eröffnet wurde.
Die Berater des Präsidenten sind sich nur zu bewußt, daß die nächsten Wochen entscheidend für den weiteren Verlauf von Bill Clintons Amtszeit sein werden. Paul Begala, Berater im Weißen Haus, hofft, daß die böse Schlappe in Sachen Verbrechensbekämpfung bei seinem obersten Amtsherren „die Kräfte eines schlafenden Riesen weckt“.
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