Fiedler in der Kretschme

Zum ersten Mal seit über 50 Jahren gibt es wieder ein jiddisches Theater in Berlin  ■ Von Thorsten Schmitz

Alexandre Levit kommt aus einem Kaff nahe Kiew. Daß er mal in Deutschland leben würde, hätte er noch bis vor drei Jahren nicht für möglich gehalten. Levits bester Freund aber, eine Art handelsreisender Fuchs, sowie seine schauspielernde Ehefrau Olga, die ihm täglich ein Jawort für Berlin abzuringen suchte, haben den theaterbesessenen Ukrainer schließlich weichgekocht. Am 30. Dezember 1990 betrat er zum ersten Mal in seinem Leben deutschen Boden. Seitdem hat er ihn nicht wieder verlassen.

Die Levits sind eine von rund 5.000 Familien jüdisch-sowjetischer Herkunft, die seit dem Ende von Glasnost, Perestroika und der Wiedervereinigung Deutschlands Berlin zu ihrem Zweitwohnsitz erkoren. Sie gehören zu den etwa 200.000 Juden, die als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ dank eines erleichterten Aufnahmeverfahrens nach Deutschland emigriert sind.

Alexandre Levit gründete in Berlin „Grimassa“, ein jüdisches Theater. Ausgerechnet in der Stadt, in der die Nationalsozialisten vor mehr als einem halben Jahrhundert das Theater des „Jüdischen Kulturbundes“ zerschlagen hatten.

Zusammen mit meistens zwölf, manchmal 16 Schauspielern probt Levit zur Zeit im trostlosen Studentenkeller der Jüdischen Gemeinde ein Stück nach den Motiven des russisch-jüdischen Autors Scholem Alejchem, dessen „Tewje der Milchmann“ als Musical „Fiddler on the roof“ Weltruhm erlangte.

Das Stück, das noch den Arbeitstitel „Kretschme“ (jiddisch für: Wirtshaus) trägt, wird im November während der Jüdischen Kulturtage uraufgeführt. Und für Furore sorgen: Es wird ausschließlich auf Jiddisch gespielt.

Levits Schauspieler und Tänzer kommen aus St. Petersburg, Kiew und Odessa. „Alle haben eine große Karriere hinter sich“, berichtet Adelheid Neumann, 43, die einzige fließend russisch sprechende Deutsche im Ensemble. Die Akteure haben die Auswanderung nach Deutschland der wirtschaftlichen Hoffnungslosigkeit und dem verstärkt auflodernden Antisemitismus im zerfallenen Sowjetreich vorgezogen.

Sie „fühlen sich hier wie am Anfang des Weges“, sagt Adelheid Neumann. Denn außerdem sind ihnen gleich zwei Sprachen fremd: die deutsche und die jiddische. Beide erlernen sie in täglichem Studium. Die Proben haben außerdem einen nicht zu unterschätzenden heilpädagogischen Effekt: sie geben den Protagonisten in der ganzen Ungewißheit ihrer Lage einen Halt.

Levit und alle anderen Ensemblemitglieder fühlen sich in erster Linie deshalb als Juden, weil ihre frühere Umgebung sie als solche diskriminiert hat: Der Antisemitismus erst machte aus ihnen Juden. Das Jüdische ist ihnen eigentlich so fern wie das Deutsche. Levit etwa wuchs mit der ukrainischen Sprache und Kultur auf, später erst kam das Russische dazu. Jiddisch redeten seine Eltern immer nur dann, wenn er etwas nicht mitkriegen sollte.

Bis zuletzt wurden Levit, seine Frau und seine beiden Söhne stigmatisiert: Levits ältesten Sohn läßt man durchs Informatikstudium rasseln, indem man ihm, wie überhaupt allen jüdischen Studenten, unlösbare Aufgaben stellt. Als 1983 Levits Kiewer Theater „Grotesk“ beim Theater-Weltfestival in Odessa den ersten Preis gewinnt, ersetzt ein Funktionär seinen jüdischen Namen Aron Samuilowitsch durch Alexandre Semjonowitsch. Auf Theaterplakaten haben über Nacht Hooligans „Ertränkt die Juden in russischem Blut!“ geschmiert.

Während seines Studiums am Franko-Theater in Kiew und in den folgenden Jahren als Schauspieler und Regisseur beschäftigt sich Levit kaum mit Jüdischem. „Die Wurzeln sind uns abhanden gekommen. Für mich ist das Jiddische auch etwas Fremdes“, sagt er. „Aber ich fühle mich davon angezogen.“ Und seine Augen strahlen dabei. Allein: Levit sieht sich gehandikapt durch die Sprachbarrieren. „Ich habe nun Freiheit im Beruf, aber es ist fast, als wäre ich ein bißchen behindert.“ Zum Handwerkszeug eines Schauspielers gehöre zweifellos die Sprache. Und wenn die nicht fließe, gerate das ganze Stück ins Stocken.

Von Stocken ist bei den Proben allerdings nichts zu erkennen. Mit voller Seele tanzen und singen die Ensemblemitglieder, darunter auch Levit und seine Frau, an einem Vormittag; jeden Tag proben sie mindestens acht Stunden. Ein bekannter, aus St. Petersburg emigrierter Ballettmeister und Choreograph studiert mit ihnen zusammen die Tänze ein. Unter widrigsten Bedingungen lassen die russischen Juden die Welt des jiddischen Theaters auferstehen. Und versuchen so, vor allem den aus Osteuropa eingewanderten Juden ein Stück Identität zu vermitteln.

Das jiddische Theater entwickelte sich außerhalb des deutschen Sprachbereichs, meist in den slawischen Gebieten, wo seit dem 12. und 14. Jahrhundert aus dem Westen eingewanderte jüdische Flüchtlinge und ihre Nachkommen aus der sogenannten deutsch-jüdischen Mundart das Jiddische entwickelten. Ab dem 19. Jahrhundert wurde Jiddisch zur Literatursprache, es lassen sich Ansätze einer jiddischen Dramatik feststellen.

Abraham Goldfaden, der 1840 in Schitomir geboren wurde und 1908 in New York verstarb, gilt als Begründer des jiddischen Theaters. Weltweit gibt es heute nur noch wenige jiddische Theater, die meisten in den USA. Am bekanntesten war das 1918 in Leningrad von Alexander Granowsky gegründete Jiddische Theater, das in den zwanziger Jahren mehrmals auch in Berlin gastierte. Unter Stalin allerdings wurden jüdische Theater geschlossen, die Künstler deportiert oder zur Auswanderung gezwungen.

Wie auch Granowsky ist Alexandre Levit die Musikalität besonders wichtig. „Kretschme“ spielt in einem Gasthof, in dem sich die unterschiedlichsten Bewohner eines Schtetls zusammenfinden. Ein Vater sucht und findet letztlich für seine Tochter einen Bräutigam. Am Schluß wird die Hochzeit groß gefeiert, Klezmermusiker treten auf, spielen eigene Rollen, hocken mitten im Hochzeitstrubel und fideln.

Die Schauspieler schneidern ihre Kostüme aus dem 19. Jahrhundert selbst, auch die Bühnendekoration trägt ihre Handschrift. Noch bevor überhaupt die Premiere über die Bühne gegangen ist, liegt „Grimassa“ eine Einladung nach Zürich vor. Innerhalb Deutschlands würden sie auch gerne Gastspiele geben, aber dazu sind sie zu arm.

Sie sind froh, daß die Jüdische Gemeinde ihnen überhaupt einen Raum zur Verfügung stellt. Ansonsten wüßten sie gar nicht, wo sie proben können. Zudem hat die Jüdische Gemeinde allen einen Sprecherziehungs-Unterricht finanziert. Doch bares Geld schießt sie nicht zu; das hat sie angeblich nicht. So bezahlen die Schauspieler Farbe, Stoffe und Trainingsklamotten mit ihrer spärlichen Sozialhilfe. „Wir arbeiten umsonst im Moment“, umschreibt Levit die Malaise. Und: „Wir haben viele Träume, aber kein Geld.“