: Erst gegenübersetzen, dann aufeinanderlegen
■ Ein Psychoanalytiker zur Angst vor einer direkten Begegnung: tiefe Beziehungssehnsüchte, Mutterkomplexe, Narzißgebaren und Anima-Projektionsgestalten
Joachim Burkart will ja nicht den Moralapostel spielen. Aber den „Wanted“-Fall von Tobias (siehe obigen Artikel) findet er schon „ein starkes Stück“. Daß die beiden gleich miteinander ins Bett gestiegen sind, das „unangemessene Überengen“, erscheint dem Psychoanalytiker „interessant und auffällig“. Das schnelle Intimwerden und das Überspringen der Auseinandersetzung deutet er als Angst vor einer konkreten Beziehungsperson und als Fehlen eines inneren Gefühls für Nähe.
Tobias, der in einer festen Beziehung lebt und Anzeigen aufgibt, sei ein Narziß, der „immer mal wieder einen neuen Spiegel vorgehalten“ bekommen will. Daß das Treffen nicht dem über zwei Jahre lang entwickelten Bild entsprach, sei eine Folge davon, daß der „Projektionsschirm“ in der Gestalt einer Frau zu einem „Lichtschein“ stilisiert wurde, der mit der Wirklichkeit wenig gemein habe. Das tagelange Träumen von der unbekannten Frau mache aus ihr einen „Engel, dessen Haare leuchten“. Deshalb dürfe ein richtiges Treffen eigentlich gar nicht zustandekommen, warnt Burkard, weil die Erwartungen so allzusehr zugespitzt sind.
Das Aufgeben von „Wanted“- und anderen Kontaktanzeigen ist für Burkard „sehr traurig“. Sie offenbaren ihm tiefe Beziehungssehnsüchte, die aber nicht ins Konkrete gehen dürften. Die Scheu der Menschen, aufeinander zuzugehen, sieht er weniger im Dschungel der Großstadt begründet. Im Gegenteil. Auf dem Land seien die Konventionen weitaus größer. Das Problem liege vielmehr in der „grundsätzlichen Angst, eine Begegnung zu wagen“, der zunehmenden Begeisterung junger Menschen für das Single-Dasein, der Ablehnung der „härteren Form der Beziehung“ – mit Kind und Kegel – und der Angst, einen Korb zu bekommen. „Oft fühlt man sich mit seinen Grenzen und Fähigkeiten nicht gut“. Auch wenn der 45jährige versucht, auf spezifische Ausdrücke aus seinem Metier zu verzichten, „weil jeder Mensch aus vielen Aspekten besteht“, kommt er um den Begriff „Anima-Projektionen“ nicht umhin – nach Carl Gustav Jung die Projektion von Frauen im Unbewußten des Mannes.
Als Prototyp fällt ihm sofort Marylin Monroe ein – eine Gestalt „ohne Gesicht“, die Sehnsüchte hochkommen läßt, ebenso wie ein Blick über die Straße, „wunderschöne Momente“, wie sie oft in französischen Chansons besungen werden. Oder kurze Begegnungen am Bahnhof, wie sie Franziska am Alex (siehe oben) hatte. Daß die beiden nicht spontan aufeinander zugegangen sind, erinnert ihn an seine eigene Pubertät, als er um das Haus seiner Angebeteten geschlichen ist. „Schade, die vergeben sich was.“
Daß der junge Mann am Telefon sofort wissen wollte, was für eine Art Beziehung Franziska denn suche, findet Burkard „traurig und bedauerlich“. Entweder sei er ein „Klammertyp“ oder er habe Angst und wolle sich gegen jegliche Beziehung, die ihn „auffressen“ könnte, absichern – ein typischer Fall von „Mutterkomplex“. Er projiziere in die Unbekannte aus der U-Bahn seine eigene erste große Liebe, nämlich die zu seiner Mutter.
Für alle willigen, aber gehemmten Kontaktbereiten ein kostenloser Typ des Psychoanalytikers, um sich das Geld für Anzeigen zu sparen: Weg von den „inneren Bildern aus der Unbezogenheit, die nichts mit dem anderen Menschen zu tun haben“. Aufeinander zugehen wäre natürlich das Beste. „Ich habe das immer gemacht“, gesteht Burkard. Allerdings mit der Einschränkung, „wenn ich Interesse und Zeit hatte.“ Dem Schwerenöter Tobias legt er an sein sehnsüchtiges Herz, beim nächsten Mal doch folgende Reihenfolge einzuhalten: erst gegenübersetzen, um sich auseinanderzusetzen, und dann erst aufeinanderlegen. Barbara Bollwahn
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