: Die Deutschen aus der Fremde
Die Erwartungen der rußlanddeutschen Einwanderer sind groß, die Realität in der neuen Heimat Deutschland ist enttäuschend ■ Von Pablo Diaz
Sie gelten nicht als Ausländer, sondern als Deutsche, und dennoch: So richtig heimisch in Deutschland fühlen sie sich nicht, die Deutschen aus Polen, Rumänien, aus Kasachstan und den anderen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion . „Über einen Kamm darf man sie sowieso nicht scheren“, sagt Silvia Schott. Sie betreut in einem Frankfurter Stadtteil seit einigen Jahren auch Aussiedlerfamilien. Die Arbeit mit den Deutschen aus Polen oder Rumänien gestalte sich längst nicht so schwierig wie die mit den Rußlanddeutschen. Dies läge nicht nur an der seit Anfang des Jahres vorherrschenden Geldmittelknappheit und der weiter anhaltenden massiven Einwanderung (im Durchschnitt etwas mehr als 200.000 Menschen pro Jahr), so Frau Schott. Dies hänge auch mit der Verunsicherung der Menschen zusammen. Sie seien desorientiert durch die kulturellen Unterschiede und ihre geringen oder kaum vorhandenen Kenntnisse der deutschen Sprache. Hinzu käme die Ghettosituation in den sogenannten Übergangswohnheimen. „Das Wort ,Übergangswohnheim‘“, so Rainer Scheer vom Wohnzentrum am Rossert in Ruppertshain, „ist sowieso längst Makulatur. Da der soziale Wohnungsmarkt praktisch nicht mehr funktioniert, verweilen die Menschen hier im Durchschnitt zweieinhalb und mehr Jahre.“ Häufig handele es sich nämlich um Großfamilien mit drei, vier Kindern. Hinzu kommen in vielen Fällen noch die Großeltern. „Und für solch große Familien gibt's keine Wohnungen“, resümmiert Scheer die Lage der Aussiedler. Als Folge blieben sie im Übergangswohnheim. Solch eine Wohnsituation fördert natürlich nicht die Kontaktaufnahme. „Anfangs ist es zwar sehr schön, weil man mit ,Landsleuten‘ zusammenlebt, die das gleiche Schicksal teilen. Mit der Zeit geht das den Menschen aber auf die Nerven“, weiß Scheer zu erzählen. Sie bleiben in der neuen Heimat isoliert.
„Wir sind auch deutsche Leute“, sagt Maria F. Sie lebt mit ihrer siebenköpfigen Familie seit drei Jahren in einem südhessischen Dorf am Rande des Odenwalds. Maria F. kam aus Kasachstan. Versuche, aus der Isolation auszubrechen, Arbeit und eine neue, größere Wohnung zu finden, sind bei ihr und ihren Familienangehörigen zwar vorhanden. Sie fruchten aber wenig angesichts der mangelnden beruflichen Qualifikation und angesichts der geringen Deutschkenntnisse. „Wir sind fleißige Leute“, betont Maria. Und dann folgen Lobeshymnen auf das zurückgelassene Dorf, das Haus, die Nachbarn. „Es gab viel Gutes in Rußland. Aber wir wollten nach der Heimat. Nach Deutschland.“
Sie ist den Tränen nahe. Ihren Mitbewohnerinnen muß sie auf Russisch erklären, was die Tränen zu bedeuten haben. „Hier ist unsere Heimat doch. Wir sind doch Deutsche. Unsere Ureltern und alles waren Deutsche“, erklärt eine Nachbarin von Maria. Mit freundlichen Gesten, mit Einladungen zum Teetrinken sollen die „Einheimischen“ (sic) ermuntert werden zu kommen. „Aber die Leute kommen nicht zu uns“, berichtet Maria etwas wehmütig. Es fällt schwer, das zuzugeben.
Die Frauen aus Kasachstan oder Kirgisien fallen auf mit ihren weißen und bunten Kopftüchern, die eher an Musliminnen erinnern, und ihren faltigen Gesichtern mit den vielen Goldzähnen. „Manche“, sagt die Nachbarin von Maria, „das spürt man, schauen auf uns, irgendwie merkwürdig. Manche sind freundlich. Manche fragen. Es gibt verschiedene Leute“, versucht sie in gebrochenem Deutsch ihre Lage zu schildern. Das neue Leben in der Bundesrepublik, so sagen sie, verlange eine Umstellung, gar Umkehrung vorhandener Verhaltensmuster. Alles ist so neu. Auch der individualistische Umgang der Menschen untereinander: „Hier ist jeder für sich“, sagt die Nachbarin.
Diese Desorientierung macht sich besonders bei den Jugendlichen extrem bemerkbar. Ihnen fehlt der Bezug zum Deutschsein der Eltern oder Großeltern. Sie leiden besonders an den Konsequenzen der ghettoisierten Lebensverhältnisse. Folge: der Griff zur Flasche. Der Konsum starker Alkoholika wie Wodka greift um sich, „die Aggressionen nehmen zu“, so ein Papier der Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlingsfragen in Frankfurt, eine Plattform, in der sich die Träger der Sozialarbeit mit Aussiedlern in der Mainmetropole zusammengeschlossen haben.
Die Jugendlichen beklagen ihre Situation offener als ihre Eltern. Ihre Lage gleicht der von remigrierenden „Gastarbeiter-Kindern“. Für die Eltern mag die Auswanderung nach Deutschland ein langersehnter Traum sein. Für deren Kinder jedoch bedeutet der Auszug in das „Paradies“ einen gewaltigen Bruch: mit der Schule, mit ihren Freunden und Bekannten, mit ihrer bis dahin bekannten Umgebung. Parallelen zur Einwanderung der Gastarbeiter tun sich hier auf. In der Regel kommen dann noch die Probleme mit der deutschen Sprache hinzu. „In Rußland waren wir die Deutschen und hier sind wir die Russen“, sagt Franz S. Er ist 1990 mit seinen Eltern und drei Geschwistern aus einem Dorf in Kirgisien in die Bundesrepublik ausgewandert. Zur Zeit leben sie in einer Einzimmerwohnung. Auch noch nach drei Jahren wird russisch gesprochen.
Direkte Ablehnung erfahre man nicht, so Franz. Sie ist aber indirekt spürbar. Die Parole „Russen raus!“ ist schon auf mancher Wohnheimwand aufgetaucht. „In Gießen beispielsweise war das der Fall“, weiß Rainer Scheer vom Wohnzentrum zu berichten.
Ob die Jugendlichen ihren Eltern vorwerfen, sie ohne ihr Zutun in ein für sie doch ziemlich fremdes Land mitgenommen zu haben, darüber erfährt man kaum etwas. Über familiäre Streitigkeiten dringt nach außen wenig. Selbst die Sozialarbeiter brauchen oft Jahre, um eine halbwegs vertrauensvolle Basis zu ihrer Aussiedler-Klientel aufzubauen. „Alles und jedes wird zunächst versucht, innerhalb der Familie zu regeln. Ob das die Betreuung der Kleinkinder betrifft oder die Probleme der Jugendlichen mit Alkohol“, sagt Silvia Schott. Sozialpädagogische Hilfen greifen daher oft nicht. Ohnehin steht für diese Arbeit, wie überhaupt im sozialen Bereich, immer weniger Geld zur Verfügung. Maßnahmen, die vor Jahren noch selbstverständlich waren – Deutschkurse, Umschulungen, Eingliederungsbeihilfen, Gelder für Freizeitangebote etc. –, werden radikal gekürzt. „Und dies, obwohl jährlich immer noch weit über 200.000 Deutschstämmige in die Bundesrepublik kommen“, kommentiert Frau Schott den eingeschränkten Rahmen ihrer Arbeit. Gegenwärtig befindet sich die Aussiedlerwanderung in einem Umstrukturierungsprozeß. Immer mehr wandern alleinstehende Frauen und auch zunehmend binationale Familien ein. Dann treten solch merkwürdige Situationen auf, daß nur ein Teil der Familienmitglieder als Deutsche anerkannt wird. Für den kirgisischen, russischen oder kasachischen Ehepartner gilt dann das Ausländergesetz. Das zieht Konsequenzen nach sich und erschwert die Möglichkeiten der Integration: keine Beihilfe, keine Umschulungs- oder Deutschkurse. „Wir nähern uns ohnehin in diesem Sektor der Abgrenzungspolitik der Flüchtlingsarbeit“, resümmiert Rainer Scheer.
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