: Zyklop, Monomane, Narziß
Warum man mit Elias Canetti hierzulande meist doch so recht nichts anfangen konnte ■ Von Willi Winkler
Ende Juli 1925, kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag, fährt Elias Canetti in die Sommerferien. Erst wandert er, wie's schöner Brauch für die Schnitzlersche Sommerfrische, mit einem Freund und bestimmt strohhutbewehrt, durchs sonnige Karwendel, dann reist er allein weiter. Nimmt den Zug nach Innsbruck, steigt um nach Kematen, übernachtet dort und stapft am nächsten Tag hinauf nach Gries. „Es war ein regnerischer, beinahe stürmischer Tag, als ich loszog“, berichtet er im zweiten Band seiner Autobiographie. „Ich ging durch Nebelwolken, der Regen peitschte mir ins Gesicht, es war zum erstenmal, daß ich allein wanderte, und es war kein freundlicher Beginn. Ich war bald durchnäßt, die Kleider klebten mir am Leib, ich ging zu rasch, um dem Unwetter zu entkommen, und geriet außer Atem.“ Schließlich findet er eine Unterkunft zwar nicht beim Pfarrer Oberlin, wird aber beim Bauern „freundlich aufgenommen, meine Sachen trockneten, gegen Abend hellte sich's auf, für den nächsten Tag wurde mir schönes Wetter angekündigt und ich konnte meine Vorbereitungen treffen.
Lenz geht durchs Gebirg; kennt man ja, die Geschichte. Canetti läßt sich von den Wirtsleuten einen Klapptisch auf die Almwiese stellen und studiert, exzerpiert und schreibt jeden Vormittag fünf Stunden lang unter freiem Himmel. Er studiert Sigmund Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ und ahnt schon vorher, daß er mehr über das Phänomen weiß als Freud. „Die Abgrenzung gegen Freud stand am Anfang der Arbeit an dem Buch, das ich erst 35 Jahre später, im Jahr 1960 der Öffentlichkeit übergab.“ Und weiht sein Leben der Revision, oder dem Sturz eines Patriarchen. Wahnhafter kann der junge Mensch gar nicht denken.
Vom Berg herabgestiegen, auf dem er seine „Grenzen gegen Freud abgesteckt“, setzt Canetti sein Chemiestudium fort, promoviert ordentlich „Über die Darstellung des Tertiärbutylcarbinols“, sammelt aber ununterbrochen Material für seine Auseinandersetzung mit Freud.
Freud als verdeckter Hauptfeind
Er erlebt den Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 mit und wie Karl Kraus den Polizeipräsidenten Schober öffentlich anklagt, er nähert sich während der ständigen Straßenkämpfe den österreichischen Kommunisten an, lernt in Berlin Brecht, John Heartfield und Isaak Babel kennen, übersetzt drei Bücher von Upton Sinclair, schreibt seinen Roman „Die Blendung“, schreibt zwei Stücke, „Hochzeit“ und „Komödie der Eitelkeit“, beobachtet, sammelt, liest.
1938, nach dem Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich, emigriert er wie Freud nach London, setzt dort sein rigoroses Programm fort. Läßt die „Blendung“, einmal gedacht als Teil einer „Comédie Humaine an Irren“, hinter sich, damit auch gleich alle Literatur. Hitler schiebt sich vor Freud als Hauptfeind; das Buch über die Masse wird um die Macht erweitert. Er sammelt, er hungert, er geizt mit Worten. Seine Frau Veza übersetzt Graham Greene ins Deutsche, um sie beide durchzubringen. Heimlich, als sollte er es selber nicht merken, schreibt er ein weiteres Stück nebenher, „Die Befristeten“, gestattet sich eine Reise nach Marrakesch. In den fünfziger Jahren die Niederschrift, und 1960 endlich erscheint „Masse und Macht“. Freud, der Anlaß, der große Widersacher, wird nicht einmal erwähnt. Der Wahn und die Träume.1
Mit der gleichen Hybris wie sein Idol Karl Kraus richtete sich Canetti im alten Haus der Sprache ein, der deutschen Sprache, die er als vierte und unter terroristischem Zwang mit acht Jahren von seiner maßlos ehrgeizigen Mutter hatte lernen müssen (kein Wunder, daß er Freud haßte). Während der Jahrzehnte in London weigerte er sich, die Sprache aufzugeben, schrieb deutsch, wollte ein deutscher Schriftsteller bleiben. Das wenigste von dem, was er schrieb, ließ er los; er wurde groß im Zurückhalten. Nur das Verläßlichste, das Bedeutendste, das Umfassendste durfte erscheinen. Alles war dem „zyklopischen Selbstzweck“ geweiht: „Die Blendung“ als Total-Roman, mit dem alles über die Großstadt gesagt ist; die alles vernichtende Komödie „Hochzeit“, schließlich „Masse und Macht“, das mit einem gewaltigen Schlag die kaum erfundenen Wissenschaften Ethnologie, Psychologie und Soziologie auch schon wieder aus der Welt schaffen will.
Glatt und ebenmäßig stehen seine Sätze da, fest wie jene Chinesische Mauer, die Canetti in einem weiteren Abwehrzauber vorwurfsvoll gegen seinen Lehrer Karl Kraus aufrichtete. „Seine Sorge gilt diesem: er sei unantastbar, keine Lücke, keine Ritze, kein falsches Komma.“ Die Mauer „ist überall gleich gut gefügt, in ihrem Charakter nirgends verkennbar, aber was sie eigentlich umschließt, weiß niemand.“
Kraus als Modell der Endgültigkeit
Auch wenn sich Canetti langsam löste von Kraus und ihm endgültig untreu wurde, als der Meister 1934 Engelbert Dollfuß' Austrofaschismus unterstützte, übernahm er dessen Endgültigkeit. Da ist man schnell überfordert: 1 Roman, 1 zyklopisches Werk zwischen allen Disziplinen, ein paar Stücke, viele Aphorismen – was sollte man bloß anfangen mit ihm? Man versucht ihn fernzuhalten. 1948 brachte Weismann in München „Die Blendung“ ein weiteres Mal heraus und verramschte sie im Jahr darauf. Der „normal empfindende Leser“ verlange statt solcher Bücher aus dem „nichtdeutschen Geistesbereich“ nach „gesunder und wahrhaftiger Kost“, hieß es in der zeitgenössischen Kritik. Dritter Versuch bei Hanser 1963. Hans Magnus Enzensberger besprach „Die Blendung“ im Spiegel und meinte, ganz unironisch vor dem „unerträglichen Buch“ warnen zu müssen.
Sie konnten nichts anfangen mit ihm, sie wollten ihn auch nicht. Er kam aus einem geographischen Nichts der Vorkriegszeit und wollte wieder dazugehören. Das konnten die Parkplatzwächter von der Gruppe 47 und die anderen Nachkriegsgrößen nicht dulden.
Noch ein Jahr nach dem Nobelpreis, 1982, wußte die Süddeutsche Zeitung den Fremden dergestalt zu signalisieren: „Der 77jährige Autor, der in Bulgarien geboren wurde und auch deutsch spricht, lebt in London.“ Man spricht deutsch oder eben nicht, hat dann aber ziemlich Pech gehabt.
Canetti blieb Geheimwissen. Fritz Martini war er in seiner Literaturgeschichte nicht der Rede wert, wahrscheinlich, weil ein im heutigen Bulgarien geborener Jude irgendwie nicht zur deutschen Literatur gehört. Ewige Nachkriegszeit. Kaum einer kannte ihn. Die Armen, sie ahnten ja nicht, wie gefährlich Canetti sein konnte, welch süßes Gift die gräßlichen Wiener Szenen in der „Blendung“ spritzten, wie komisch böse sie alle waren, das Schachgenie Fischerle, die lüsterne Haushälterin Therese, der Blockwart Grob! Die Ahnungslosen, sie hatten natürlich auch nie von Iris Murdoch gehört, die Elias Canetti ihren Roman „The Flight From the Enchanter“ (1956) widmete. Offenbar war auch sie diesem Zauberer verfallen, konnte sie sich nur unter Mühen aus seinem Machtbereich befreien.
Ein Semester lang bin ich tatsächlich gern in die Uni gegangen, in ein Seminar über das Werk von Elias Canetti. Herbert Göpfert, der ihn zu Hanser gebracht und damit erst eigentlich entdeckt hatte, prüfte die Kandidaten streng daraufhin, ob sie auch genug Canetti gelesen hätten. Wer aufgenommen wurde, bekam jede Woche ein ungeheures Lesepensum auf. Wenn irgendwo der Jäger Enkidu vorkam, wurde das Gilgamesch-Epos gelesen, wenn David Roberts in der psychiatrischen Methode am Ende der „Blendung“ einen Vorgriff auf Laing sah, mußte man auch den studieren. Es war der schönste Jugendwahn; daß man selber Teil hätte an dem Universalwissen, das Canetti in Jahrzehnten anhäufen konnte. „Wenn ich die alten Spanier lese, etwa die Celestina oder die Sueños von Quevedo lese, glaube ich, ich spreche aus ihnen.“ Dieser ungeheure Hochmut ist schnell übertragen: Schon sitzt man mit dem Chemiestudenten Canetti auf der Alm in der Sonne und will in zehn Tagen die Welträtsel lösen.
Der Nobelpreisträger als Stellvertreter
Dennoch bin ich, als sich die Gelegenheit bot, mitten im Semester mit sehr schlechtem Gewissen nach Peru gefahren. In Arequipa, der Geburtsstadt von Mario Vargas Llosa, stand in einer Buchhandlung „Masa y Poder“, die neue spanische Ausgabe von „Masse und Macht“. Der seinen war nicht zu entkommen.
Im Jahr darauf erhielt Canetti den Nobelpreis, aber da war er dann Gemeingut und nicht mehr so wichtig. Sein Leben lang hatte er unendlich geduldig auf den Weltruhm gewartet; er wußte, daß er ihm eines Tages zufallen würde. Im Gefühl seiner Bedeutung hat er mit Doktoranden korrespondiert, ihre Arbeiten vor der Drucklegung durchgesehen, er hat da und dort vorgetragen, sein Sprechtheater aufgeschlagen wie einst Karl Kraus, hat Verlegenheits- und tatsächlich ehrende Preise erhalten und er hat gewartet. Alma Mahler- Werfel, die als groteske Haßfigur in der „Fackel im Ohr“ auftritt, war mehrfach nach Stockholm gereist, um ihrem Männe Franz Werfel den Nobelpreis zu erschwatzen. Canetti bekam ihn so. Er nahm den Preis stellvertretend für vier Männer an, die ihn nie erhalten haben und „von denen ich mich nicht zu trennen vermag“, für Karl Kraus, Franz Kafka, Robert Musil und Hermann Broch. Bescheidenheit, ja, und auch narzißtischer Wahn. Aus mir sprechen viele, ich bin eins mit den Großen. Die Welt muß es sein, ganz und gar.
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