: Zehntausend Flüchtlinge im Niemandsland
■ Nach der Eroberung der „Autonomen Region Bihać“ durch die bosnische Armee versuchen Soldaten und BewohnerInnen nach Kroatien zu fliehen / Doch Zagreb erteilte bisher keine Einreiseerlaubnis
Sarajevo (AP/AFP/taz) – Bosnische Regierungstruppen haben die abtrünnige Region Bihać im Nordwesten der Republik zurückerobert und damit eine Massenflucht der Bevölkerung ausgelöst. Ein Sprecher der französischen UNO-Truppen teilte mit, die Truppen seien nach einem „Sturmangriff“ im Morgengrauen in die Gebietshauptstadt Velika Kladusa eingerückt. Danach sei es nur noch zu vereinzelten Schießereien gekommen.
Velika Kladusa war der Sitz des muslimischen Politikers und Geschäftsmanns Fikret Abdić, der sich im Herbst 1993 gegen die Regierung in Sarajevo gewandt und mit den bosnischen Serben verbündet hatte. Der Krieg um Bihać hatte einen erheblichen Teil der Regierungstruppen gebunden. Nach dem militärischen Erfolg könnte die Regierung jetzt ihre Offensive gegen die Serben verstärken, hieß es in Sarajevo.
Wie ein UNO-Offizier berichtete, haben Anhänger Abdićs ihre Waffen weggeworfen und sich unter die Flüchtlinge gemischt. Den Angaben zufolge sollen bis Sonntag bis zu 10.000 Menschen aus Angst vor Racheakten die Grenze zum serbisch kontrollierten Teil Kroatiens überquert haben. Die Ankömmlinge seien zum Teil in einem erbärmlichen Zustand. Tausende hielten sich im „Niemandsland“ an der Grenze zu Kroatien auf. Die auf beiden Seiten verminte Straße sei verstopft. Andere Quellen berichteten, daß beinahe 20.000 Flüchtlinge in kilometerlangen Kolonnen an der Demarkationslinie auf Einreisegenehmigungen warteten. Da Zagreb der Aufnahme der Flüchtlinge bisher nicht zugestimmt hat, seien die Übergänge gesperrt worden. Ziel der Muslime sei das Auffanglager im kroatischen Karlovac.
Ein Versuch der UNO, zwischen Abdić und der bosnischen Regierung zu vermitteln, war gescheitert, weil Abdić weiterhin an einer „Autonomen Region Bihać“ festhalten will. Sein Aufenthaltsort ist nicht bekannt. In dem Dorf Skokovi, 20 Kilometer südlich von Velika Kladusa, waren am Samstag fünf Kinder bei einem – vermutlich serbischen – Artillerieangriff getötet worden.
Belgrad wirft Pale Kriegsverbrechen vor
Die Regierung in Belgrad hat sich erneut von der Führung der bosnischen Serben distanziert. In einem Interview mit der Belgrader Zeitung Politika machte der Präsident Rest-Jugoslawiens, Zoran Lilić, die bosnischen Serben erstmals auch für Kriegsverbrechen verantwortlich. Die Führer in Pale hätten die Bildung paramilitärischer Verbände gebilligt, die „Zivilisten terrorisieren“ und nichtserbische Bürger verfolgten. Weiter sagte der Präsident, ausschließlich „Männer, die sich weigern, ihre Glaubwürdigkeit durch Wahlen bestätigen zu lassen, können so verantwortungslos“ handeln wie die Führung der bosnischen Serben. Lilić beschuldigte die Führung in Pale, sich durch „kriminelle Aktivitäten“ bereichert zu haben. Die Hyperinflation in Rest-Jugoslawien sei durch die Ausgabe falscher Dinar-Scheine durch die bosnischen Serben verursacht worden.
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