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Die Wiederkehr des verschwundenen Hippies Von Mathias Bröckers

Wie der Geist von Woodstock letzte Woche das Mannheimer Urteil und seine Verfasser hinwegfegte, das war schon grandios. Daß es dieser Geist war, daran kann kein Zweifel bestehen, nimmt man Woodstock als Metapher für die Gegenkultur der 60er und nicht nur als dämlichen Kommerz- Event. Was die Hippies, „Gammler“ und Aussteiger damals kulturell intuitiierten – Ökologie, Multi- Kultur, globales Denken, love and peace – hat sich auf breitester Front durchgesetzt; und ist, wie noch jedes Ideal, auf dem Marsch durch die Institutionen verkommen. Wenn aber die Archäologen der Zukunft einst auf die Spurensuche nach den soziokulturellen Initialzündungen für das 21. Jahrhundert gehen, werden sie bei den barfüßigen Propheten, den Hippies, landen: jenem „Haufen verlotterter, schmuddeliger Gestalten, die sich nur duch das bessere Milieu, aus dem sie kommen, vom Landstreicher unterscheiden und die vor allem eins miteinander verbindet: daß sie nichts mehr hassen als Arbeit. Daß sich die Zeitungen und Illustrierten dieser Gammler- und Hippiefiguren liebevoll annehmen und jede ihrer diffizilen Seelenregungen mit epischer Breite aufzeichnen, ändert nichts an der Tatsache, daß es diese Typen zu allen Zeiten und bei allen Völkern gegeben hat, ohne daß man es je für nötig hielt, ihnen Beachtung zu schenken. Trotzdem verdienen sie unsere Aufmerksamkeit, aber lediglich als mögliche Infektionsherde für andere Jugendliche.“ Soweit ein typisches Porträt der „Protestgeneration“ aus der Feder eines BKA-Direktors im Jahr 1968.

Daß diese seuchentheoretischen Vorstellungen sich nicht auf ganzer Linie durchsetzen und die „Seelenregungen“ der Hippies sich im Gegenteil als äußerst fruchtbarer Infektionsherd erweisen konnten – diesem glücklichen Umstand verdanken wir die letzte Kulturrevolution. Ein neuer Lebensstil, neue Musik, ein neues Bild der Frau, der Partnerschaft, der Sexualität, der Natur und Umwelt, Befreiung von erstarrten Konventionen und Spießertum, die „verlotterten Gestalten“ exerzierten neue Werte vor, die heute völlig selbstverständlich sind. Wie selbstverständlich, das zeigte zuletzt die breite Welle der Empörung, von der die Mannheimer Urteilsbegründung und Ehrenerklärung für den Nazi Deckert hinweggefegt wurde. Den sauberen, guten Deutschen, der zwar fanatischer Faschist ist, aber wenigstens seinen Vorgarten pflegt, Hunde liebt und für Ordnung eintritt, läßt sich die deutsche Öffentlichkeit einfach nicht mehr bieten. Aufregend an diesem Urteilstext ist, daß die Werte, die er vertritt, in den 50er, 60er und 70er Jahren die Mühlen der Medien und der Justiz anstandslos passiert hätten. Erst jetzt, 25 Jahre nach „Woodstock“, haben die Sekundärtugenden als Persilschein ausgedient. Auf verschlungenen Wegen sind die „Seelenregungen“ der Hippies im Alltag angekommen – nicht als „Revolution“, sondern als kleine kulturelle Entwicklung zur offenen Gesellschaft. Die Evolution geht langsam voran, aber unübersehbar. Selbst die Psychedelik feiert fröhliche Urständ: Eine bessere Einführung in die Erweiterung des Bewußtseins und die Wahrheit von Halluzinationen als den Mega- Bestseller „Das magische Auge“ hätte sich Timothy Leary damals nicht wünschen können ...

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