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UN: Abdić floh in die Krajina

■ Zwischen 10.000 und 60.000 Menschen aus der „Autonomen Region Westbosnien“ stehen weiter an der kroatischen Grenze

Berlin/Zagreb (taz) – Fikret Abdić, bis gestern „Präsident“ der selbsternannten „Autonomen Region Westbosnien“, ist in die serbisch besetzten Gebiete Kroatiens geflohen. Nach Angaben von Sergio Vieira de Mello vom „Amt für zivile Angelegenheiten der UN“ hält sich Abdić seit Sonntag abend in Majevac, einem Dorf in der „Serbischen Republik Krajina“, auf. Der ehemalige kommunistische Mustermanager hatte sich im Herbst letzten Jahres von der Regierung in Sarajevo losgesagt und separate Friedensverträge mit den serbischen und kroatischen Truppen geschlossen.

Seitdem hatte seine Miliz versucht, die Kontrolle über die westbosnische Enklave Bihać zu erlangen. Am Sonntag morgen hatten Truppen des 5. Korps der bosnischen Armee Abdićs Hauptquartier in Velika Kladuša nahe der Grenze zu Kroatien erobert. Doch „Babo“ (Großvater) war schon weg: Die Telefonvermittlung in der kroatischen Hauptstadt Zagreb gab an, zu diesem Zeitpunkt seien die Leitungen in Abdićs Atombunker bereits tot gewesen.

An der Grenze zu Kroatien warteten auch gestern Tausende von Flüchtlingen aus der Abdić-Republik – unter ihnen Frau und Tochter des Autonomisten-Führers. Dabei blieb weiterhin unsicher, ob die Menschen tatsächlich über die Demarkationslinie in die kroatische Stadt Karlovac einreisen dürfen – zumal völlig unklar ist, auf wie viele neue Flüchtlinge sich die exjugoslawische Republik einstellen muß. Während die UN-Blauhelme in der Krajina von „weit über zehntausend“ Flüchtlingen sprachen, gab das „Internationale Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK) deren Zahl mit „knapp zwanzigtausend“ an.

Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) sprach dagegen von rund 24.000 Flüchtlingen, die kroatische Tageszeitung Večernji List vermeldete auf Seite 1 die Flucht von 60.000 Menschen. Sicher war bei Redaktionsschluß lediglich, daß sich 14.000 Zivilisten in einem Sammellager nahe der Stadt Slunj aufhalten. Weitere 7.000 Bosnier warten nach einem Berich von dpa in der Ortschaft Staro Selo auf Hilfe.

„Uns fehlt die Übersicht“, faßte gestern ein UN-Sprecher in Zagreb zusammen. Tatsächlich ist bisher nicht nur unbekannt, wie viele Menschen Einlaß nach Kroatien verlangen. Unklar war gestern auch, wie lange die Menschen aus Velika Kladuša in der Nachbarrepublik bleiben sollen. Weil Kroatien selbst zur Zeit rund eine halbe Million Flüchtlinge zu versorgen hat wurde schon vor zwei Monaten die Ausgabe der Einreisevisa für bosnische Staatsbürger auf sechzig pro Monat beschränkt. „In unseren Flüchtlingslagern ist einfach kein Platz mehr“, hieß es in einer Erklärung des „Amtes für Flüchtlinge und Vertriebene“ in Zagreb.

UNHCR-Sprecherin Alemka Lisinski teilte mit, ihre Organisation hoffe auf eine baldige Rückkehr der Flüchtlinge in die westbosnische Enklave Bihać. Allerdings müßte sich erst die Lage dort entspannen. Die bosnische Führung in Sarajevo hatte Rückkehrwilligen „Sicherheit und persönliche Unversehrtheit“ garantiert – sofern diese nicht an Verbrechen der Abdić-Regierung beteiligt gewesen sind. Die Flüchtlinge – in der Mehrzahl Frauen und Kinder, aber auch einzelne Angehörige der geschlagenen Autonomisten-Milizen – machten derweil keine Anstalten zur Rückkehr. „Es kann neben den aktuellen politischen und militärischen Gründen auch daran liegen, daß viele von ihnen nach über zwei Jahren Krieg nicht mehr in der Einkesselung leben wollen“, so Nina Paulsen vom IKRK. Voraussetzung für eine Einreise der Menschen nach Kroatien sei die Ausstellung westlicher Visa.

Gleichzeitig wollte gestern niemand darüber spekulieren, wie lange die Machthaber in der „Serbischen Republik Krajina“ die Anwesenheit der Bosnier aus Velika Kladuša auf „ihrem“ Gebiet dulden würden. „Noch geben sich die Krajina-Behörden freundlich und hilfsbereit“, hieß es bei der UNO. Die Versorgung der Menschen übernahm vorerst das UNHCR. Rüdiger Rossig

Kommentar Seite 10

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