: Wer hat Eddy Merckx gesehen? Von Alois Berger
Unser ökologischer Hausfreund gehört zu der waghalsigen Spezies der Brüsseler Fahrradfahrer. Als er vor ein paar Monaten von Stuttgart in die Hauptstadt der Europäer wechselte, brachte er als erstes gleich sein Alu-Gerät mit. Großstädte seien für Autos nicht geeignet, lehrte er uns, und was gäbe es Natürlicheres, als sich im Lande des Eddy Merckx auf zwei Rädern fortzubewegen.
Seitdem hat sich unser Freund etwas verändert. Sein Zahnarzt hat ihm wiederholt empfohlen, entweder die Metro zu benutzen oder beim Radeln durch die Stadt ein Stück Pappe zwischen die Zahnflächen zu stecken, um den nervösen Abrieb zu vermindern. Der Zahnarzt, ein älterer Herr, der sich auf deutsche Kunden spezialisiert hat, ist so was wie ein Spezialist für die Zahnkränze von City-Bikern. Er betreut schätzungsweise ein Drittel aller in Brüssel zirkulierenden Radfahrer. Unser Hausfreund ist sein fünfter Velopatient. Wir hatten ihn wegen eines losen Zahnes hingeschickt, der sich bei einer Karambolage mit einem anderen Radler aus der Verankerung löste. Er habe sich so auf die verrückten Autofahrer konzentriert, versicherte er, daß er den Mitstreiter völlig übersehen habe.
Normalerweise rechnet man in Brüssel auch nicht mit so was. Die Chance, einem Radfahrer zu begegnen, ist kleiner als ein guter Wurf beim Sonntagsbingo. Gerade das schweißt die kleine Gemeinde zusammen und schafft ein Wir-Gefühl, auch wenn man sich so gut wie nie über den Weg fährt. Brüssel ist kein Tummelplatz für Fahrradfreaks, Brüssel ist eine Herausforderung für Fighter. Mein Vermieter, ein echter Belgier aus einer albanischen Familie, steigt nur abends auf, wenn er sich sozial abreagieren muß, wie er sagt.
Das ist übrigens die einzig überlebenstüchtige Einstellung. Die Stadt besteht vorwiegend aus Autobahnen; Fahrradwege gibt es nur oben am Nordrand, wo niemand hinmuß. Der für die Innenstadt zuständige Bürgermeister hat jetzt versprochen, an zentralen Orten Abstellplätze zu schaffen. Die Brüsseler würden nur deshalb Auto fahren, analysierte er messerscharf, weil sie nicht wüßten, wo sie ihre Citybikes festbinden sollten.
Aber vielleicht liegt das Hauptproblem doch eher in der seltsamen Erfahrung, einfach nicht mehr wahrgenommen zu werden, sobald man auf ein Fahrrad steigt. Kein Polizist zieht die Augenbraue hoch, wenn einer von uns bei Rot über die Ampel fährt, wenn er die Einbahnstraße mißachtet oder auf dem Gehsteig langtrudelt. Aber dafür muß man auch täglich in Kauf nehmen, daß Autofahrer erst Augenkontakt mit einem aufnehmen und dann trotzdem abbiegen, was böse ausgehen kann. Noch verblüffender ist das Erlebnis, wenn eine Horde von Fußgängern brav die Autos vorbeifahren läßt und auf einmal massenweise auf die Straße strömt, als ob es den nachfolgenden Radfahrer nicht gäbe. Belgier sind viel zu menschenfreundlich, als daß man ihnen bösen Willen unterstellen dürfte. Es muß in belgischen Pupillen irgend etwas geben, was Fahrradfahrer aus dem Sichtfeld herausfiltert. Eddie Merckx vermeidet es übrigens, nach Brüssel zu kommen. Wenn es sein muß, wie zum Nationalfeiertag am 21. Juli, als er vom König persönlich eingeladen war, dann hält er sich von Fahrrädern fern. Er will schließlich gesehen werden.
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