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Offener Brief

■ an die Grünen im niedersächsi schen Landtag, Hannover

betr.: Chaos-Tage

B 5 aktuell, die öffentlich-rechtliche Wahrheitsschmiede Bayerns, teilte mir kürzlich mit, Ihr hättet meine Verhaftung am 5. d. M. als äußerst wirksamen Polizeieinsatz gelobt. Gegen 17 Uhr wurde ich in „Verhinderungsgewahrsam“ genommen, als ich gerade aus dem Kaufhof kam und in der Schillerstraße nahe dem Bahnhofsvorplatz eine Person mit kahlgeschorenem Schädel ansprach. Meine Isomatte und meine Sandalen wiesen mich offenbar als verhinderungswürdig aus. Ich wurde in ein Polizeifahrzeug geladen, während sich der Leiter dieser Aktion mit den Worten „Die Bräute da hinten schnappen wir uns auch gleich!“ schon neuen Zielen zuwandte. So kam es, daß ich erst am Samstag abend um zehn wieder an die frische Luft kam.

Ich will ja gar nicht über die Unterbringung (zu viert in einer Zelle mit einem Bett, aber wir denken ja alle kollektiv und teilen redlich – ich das Kissen, du die Matratze, du die Decke und du das Laken) und die Verpflegung (Freitag gar nix, Samstag früh und mittag je eine Tasse Kaffee – oder sollte es Tee darstellen? Es stank jedenfalls furchtbar und schmeckte entsprechend – und ein Marmeladentoastbrot, am Mittag zusätzlich ein Napf mit fettiger Brühe und ein paar Einlagen; als es das Abendtoastbrot gegeben hätte, wurde ich rausgeschmissen) jammern. Die Buchführung war ein einziges Chaos; am Samstag vormittag kamen zweimal Leute zu mir in die Zelle, die mich entlassen wollten, aber das eine Mal hatten sie sich in der Zellennummer geirrt, und das andere Mal ging es, wie sich herausstellte, um einen Eppler – und als ich endlich dran war, brauchten sie eine geschlagene Stunde, um mich zu finden.

Die Behandlung durch die Wachteln war halbwegs in Ordnung, davon abgesehen, daß der „Zimmerservice“ vor allem während der Nacht gnadenlos überfordert war; teilweise mußten die Leute eine Dreiviertelstunde lang an die Tür hämmern, bis sie endlich aufs Klo durften. Wenigstens erklärte mir einer der Aufpasser, warum ich hier war: Ich hätte auf einem Flugblatt angekündigt, vor der Oper Frackträger (sogenannte Pinguine) verprügeln zu wollen – nicht mit uns, Freundchen. So war das also. Ich saß im Knast, weil die Stadt von einem Rudel paranoider Pinguine regiert wird. Jetzt weiß ich wenigstens, warum Pinguine Scheiße sind.

Was ich allerdings wirklich schlimm fand, war, daß so viele Leute eingebunkert wurden, die keine Ahnung hatten, um was es überhaupt ging. Zu mir auf die Zelle kam am Samstag mittag ein Pole, der „drüben“ als Schreiner arbeitet und gerade Urlaub in Deutschland machte. Der wollte am Abend auf ein Konzert in Berlin und bewegte sich zu diesem Zweck mit ein paar Freunden auf den Hauptbahnhof zu. Er erzählte mir – auf russisch, denn sein einziges deutsches Wort war „Zigarette“, und auf englisch konnte er nur herumstottern –, daß sie nur auf der Straße lang gegangen und auf einmal grundlos verhaftet worden seien. Weil er das erste Mal in seinem Leben hinter Gittern gelandet war und keine Ahnung hatte, was mit seinen Freunden passierte und was überhaupt los war, machte er einen ziemlich deprimierten Eindruck. Leider kann ich nicht genug Russisch, um Begriffe wie „Pinguin“, „Chaos- Tage“, „Masseningewahrsamnahme“ oder „Verhinderungsgewahrsam“ zu erklären, aber er war schon froh, als ich ihm sagte, spätestens am Montag morgen käme er wieder frei. Der weiß jetzt wenigstens, daß es in Deutschland wirklich so zugeht wie in den alten Filmen...

Etwas massiver protestierte der Potsdamer Zellengenosse, der am Abend zuvor in Hannover auf einer Party zu Gast war, am Morgen heimfahren wollte und auf dem Weg zum Auto abgegriffen wurde – offenbar wegen seiner langen Haartracht. Der brüllte immer wieder „Ich bin unschuldig“, obwohl ich ihm x-mal erklärt hatte, daß die da draußen das wüßten, weil in dem ganzen Bau nur unschuldige Leute eingesperrt waren. Da sagte er, das hätte es früher bei ihm zu Hause nicht gegeben, und er würde das nächste Mal PDS wählen.

Den Streit Eures Innenministeriums mit der Bundes-CDU, von dem B 5 ebenfalls berichtet hat, verstehe ich nicht ganz. Letztere hat nachträglich vorbeugende Maßnahmen verlangt, und ein Sprecher des ersteren hat gesagt, so was gäbe es in einem Rechtsstaat nicht. Das kapiere ich nicht ganz. Die CDU bemängelt, daß das, was passiert ist, nicht passiert sei, und die Regierung sagt, was passiert ist, gebe es nicht. Ehrlich gesagt, in Bayern ist Politik nicht so kompliziert. Da steht die Regierung wenigstens zu ihren Ansichten über die Menschenrechte, und die Opposition beschwert sich über deren Verletzungen.

Übrigens, wo ich gerade von Bayern erzähle: In Lindau (sechs Kilometer von hier, 25.000 EinwohnerInnen) war es Ende Juli möglich, mit 300 Leuten Chaos- Tage (ebenfalls der Polizei vorher bekannt, ebenfalls bundesweit und im angrenzenden Ausland plakatiert und eingeladen) zu veranstalten, ohne gleich den Ausnahmezustand über die ganze Stadt zu verhängen. Wir hatten an diesem Wochenende ein Riesenfest und viel Spaß, weil die Polizei was Besseres zu tun hatte, als Partybreaker zu spielen und rumzuprügeln. Die hat statt dessen in Memmingen Faschos gejagt. Der Sachschaden betrug zirka ein Prozent dessen, was in Hannover kaputtging, und es gab nur zwei Leichtverletzte. Die Verursacher des Sachschadens (Schaufenster und Auslagen eines Schnapsladens) wurden gefaßt, und mit dem Verlauf der Chaos- Tage konnten alle ganz gut leben.

Warum ist das bei Euch nicht möglich? Sind die ganzen schlauen Sprüche von der Deeskalationsstrategie schon vergessen? Ihr könntet Euch doch wenigstens ein bißchen Mühe geben, mich für den Wechsel im Herbst zu motivieren, schließlich war ich doch mal Euer Stammwähler! Im Moment kann ich mich wirklich nur der bekannten HausbesetzerInnenparole anschließen: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer verrät uns schneller? Die ...!“ (In Berlin reimt es sich, in Niedersachsen stimmt es.) Uli Epple, reisender Randalierer

(das dürfte jetzt zumindest im

Polizeicomputer unter meiner

Ausweisnummer gespeichert

sein. Für meine Invorbeugege-

wahrsamnahme vor der nächsten

Antifa-Demo spreche ich Euch

schon heute meinen Vorbeugedank aus)

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