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Hip und Hop aus Gaunerkehlen

■ Überschallfestival –94: ein Haufen wuchtiger Heroen läßt die Wänste rappen und entfacht ein Tanz-Inferno

Bremens größtes progressives Musikfestival „Überschall“ gehört mittlerweile zum Pflichtprogramm für Kulturschaffende, laut ellenlanger Gästeliste. Und die konnten Donnerstag abend im Aladin dann auch gleich eine Lektion für eigene Veranstaltungen mitnehmen: Immer ans Grande Finale denken. Denn, so lehrt uns das kleine Einmaleins des Entertainment, auch Konzertunterhaltung lebt von der Dramaturgie, dem Hinsteigern auf einen Höhepunkt.

Jahr für Jahr schafft Bulti, der Chef des Bremer Untergrundplattenladens „Überschall“, die Creme der Bands heran, die alle Hörgewohnheiten in Frage stellenden. In der Regel ist das ein ungetrübter Hochgenuß. Diesmal aber wurde es einer ohne ein rechtes Ende.

Dabei lief zunächst alles nach Plan: Die Konzertleitung selbst, seit Jahren von „Überschall“ an die Neustädter Konzertmacher Revue übertragen, war professionell, unterschied sich kaum von anderen Großrockveranstaltungen; Ausgang für Frischluftwillige etwa war untersagt.

Das US-Trio Barkmarket betrat pünktlich um halb Neun die Bühne, stimmte ausgiebig, trank Bier und begann irgendwann sogar zu musizieren. Das war nicht weiter der Rede wert, viel Feedback, noch mehr Gitarrestimmen, ein bißchen Rock ohne Tempiwechsel, am Liebsten auf einem Akkord. Die Mischung aus mal lauten, mal leisen Teilen und der dünne Gesang begeisterte gerade mal die ersten beiden Reihen. Erfreulich, aber ein unübliches Phänomen: der für Anregungen offene Mixer, der nach gutem Zureden der fiepsenden Gitarre die Schärfe nahm und unzählige Gehörgänge vor Schaden bewahrte.

Fortan war der Sound eine Freude, und das wußten die New Yorker Cop Shoot Cop zu nutzen: um einen Hilfsgitarrero aufgestockt, verbreiteten sie mit zwei Bässen und einem Sampler eine wuchtige Melange aus Industrial-Rhythmen und pfiffigem Songwriting. Lebhaft und vor allem vom Sound her differenziert brachte das Quintett vor allem neueres Material, wobei die innovativen Tanzheroen eifrigst die Instrumente tauschten, mal mit zwei oder gar drei Schlagwerken agierten und der Gitarrenmann sogar trefflich die Trompete zu spielen verstand. Immerhin, nun tanzten schon fünf Reihen.

Überraschenderweise kam dann schon der Top Act: der Boo Yaa T.R.I.B.E. hatte wohl hinter der Bühne Druck gemacht, um nicht als letztes agieren zu müssen. Und einem Haufen doppelzentnerschwerer Ex-Gangster wiederspricht man nicht, auch wenn sie eigentlich als Höhepunkt geplant sind. Zehn statt der erwarteten vier Brüder sprangen auf der Bühne herum und entfesselten ein wahres Tanz-Inferno. Der Hip Hop, aus sechs Gaunerkehlen gerappt, war nur die Grundlage - vor allem überzeugten die Stammesbrüder aus Los Angeles als Entertainer. Ob per gekonnter, auch stimmlich überraschend überzeugender Soul-Einlage eine Elegie auf die gefallenen Gangster-Kumpel zelebriert, oder mit schweine-hart verzerrter Gitarre schwerer Metal ins Programm gewoben wurde - der Tribe hatte das Aladin voll im Griff. Der Saal feierte, war Wachs in den klobigen Händen der massigen Hip Hop-Horde.

Als dann um halb Eins der Stamm die gequälten Bühnenbretter verließ, herrschte Ratlosigkeit. Waren Jesus Lizard ausgefallen? Oder Opfer des Heißhungers der Boo-Yaas geworden? Weder noch, um Eins machte sich das Quartett an die undankbare Arbeit, die Verbliebenen noch einmal aufzuputschen. Mehr als Mitwippen und freundlich Ausharren war bei den durchaus hörenswerten Lärmrock-Artisten allerdings nicht mehr drin, da retteten auch die Eskapaden des in die Menge springenden singenden Familienvaters David Yow, 33, auch nichts. So blieb denn nur, um kurz vor Zwei abgekühlt und ratlos heimzuwanken und sich zu wundern, warum die Veranstalter leichtfertig auf ein sicheres Finale verzichtet hatten.

Lars Reppesgaard

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