Keine wahnsinnigen Erotomanen

■ Die schwedische Soziologin Lena Legerklang zur sexuellen Freiheit ihrer Landsleute. Der Mythos von den hemmungslosen SchwedInnen, die überall nackt und geil umherhüpfen, hat das Image des Landes mitgeprägt

taz: Frauen ohne Bikinioberteil an den Mittelmeerstränden waren in den sechziger und frühen siebziger Jahren fast durchweg schwedische Urlauberinnen. Sie standen damals in der Männerwelt in dem gefestigten Ruf der Sexbereitschaft ohne aufwendiges „Vorflirten“. Warum gaben und geben sich die Schwedinnen so „frei“?

Lena Legerklang: Ich glaube nicht, daß schwedische Urlauberinnen ein ausschweifenderes Sexualleben haben als deutsche oder englische. Und bloße Brüste habe ich trotz unserer Rekordhitze in diesem Sommer an der deutschen Ostseeküste weit häufiger gesehen als hier in Schweden. In der Frühzeit der „Oben-ohne-Bewegung“ lagen die Schwedinnen sicher weit vorne. Doch hatte das weniger mit „Sünde“ als mit unserem entspannteren Verhältnis zum Körper zu tun. Schweden war in den fünfziger Jahren das weltweit erste Land, das in den Schulen eine obligatorische Sexualerziehung einführte. Das zog ein heute nicht mehr vorstellbares internationales Presseecho über die sogenannte schwedische Unmoral nach sich.

Ein Bild, zu dem die „Schwedenfilme“ beitrugen.

Ja, die berühmteste Brustwarze der Welt war Anfang der fünfziger Jahre schwedisch und gehörte Ulla Jacobsen im Film „Sie tanzte nur einen Sommer“. Ansonsten völlig harmlose Filme haben wegen solcher Einzelszenen das Bild von Schweden als angeblichem Sündenpfuhl erzeugt. Daß die Pornoproduzenten diesen Ruf dann ausnutzten, ist eine andere Sache. Damals bestand unsere Sünde nicht darin, daß wir plötzlich, über Nacht, alle als wahnsinnige Erotomanen nackt herumhüpften und mit geifernden Mündern dem nächsten Sexualakt entgegenhechelten. Wir begannen nur früher als andere, mit der Doppelmoral in Sachen Sexualität Schluß zu machen. Ein stückweit zumindest. Und dazu gehörte eben auch ein Schuß Nacktheit.

Christina Schollin, eine Schauspielerin aus vielen „Schwedenfilmen“, die deshalb international geradezu als Sinnbild der schwedischen Frau galt, berichtete kürzlich, daß sie damals bei einem Südamerikabesuch für ihre Rollen regelrecht gefeiert wurde. Und zwar von Frauen.

Ja, nach solchen Filmen kratzten die Männer alle Ersparnisse zusammen, um in einem Schwedenurlaub die vermeintliche Sünde zu erleben und erzählten ihren Kumpels dann statt der frustrierenden Wirklichkeit Phantasiegeschichten über die freizügigen Schwedinnen. Die Frauen ihrerseits waren begeistert, daß eine Frau ihre Sexualität und ihre Liebe bejahte, obwohl sie nicht verheiratet war. Das Revolutionäre war sicher nicht der nackte Busen, sondern die Tatsache, daß dargestellt wurde, wie schön Liebe ist. Daß sich Sexualität dann auch noch im Freien abspielte, gab dem Ganzen einen besonderen exotischen Reiz.

Sie veröffentlichen im Herbst eine Abhandlung über die „schwedische Sünde“, in der sie das Auslandsbild über die angeblich hier herrschende Unmoral als Angriff von rechts auf die Sozialdemokratie werten. Muß man aus einer Debatte über Nacktheit gleich eine Verschwörungstheorie machen?

In den fünfziger Jahren war das Bild von Schweden im Ausland das eines Wohlfahrtsstaates mit starker staatlicher Steuerung. Zu Zeiten des kalten Kriegs durchaus eine Greuelvorstellung. Das Bild vermeintlicher Unmoral aufzubauen, war da ein ganz wesentliches Mittel, um die angeblichen Schattenseiten eines Wohlfahrtsstaats auszumalen. Nach dem Motto: „Was blieb uns armen Menschen in diesem Staat wie Orwells 1984 anderes übrig, als in Nacktbaden, freie Liebe und hemmungsloses Vögeln zu verfallen. Und das zu jeder Tages- und Nachtzeit.“ Irgendwann wurde aus dem Mythos dann eben „Wahrheit“. Auch wenn es keine vergleichenden Statistiken dazu gibt, kopulieren wir sicher nicht mehr als andere, und das Nacktbaden im Freien hat schon klimatisch bedingte Grenzen.

Die nackten Schwedinnen sind also nichts als ein Mythos?

Wir waren ein bißchen früher dran als die anderen. Wir haben die Dinge ein wenig eher beim Namen genannt und etwas eher das Schamtuch um die Sexualität ein Stück gelüftet. Das hat offenbar den Ruf der Schwedinnen auf Dauer geprägt. Was aber wirklich nur erklärbar ist vor dem Hintergrund der regelrechten Kampagne, die neben einer politischen auch eine christliche Kritik am säkularisierten Schweden war. Gerade in der italienischen Presse gibt es Beispiele für wahre Kunstwerke kreativer Schilderungen dieses ständig nackt und geil herumhüpfenden nordischen Naturvolkes. Für die Verleihung eines Journalistenpreises für Phantasieprodukte könnte ich gleich mehrere erstrangige Beiträge nennen. Jetzt, da unser Wohlfahrtsstaat am Ende ist, wäre es nicht mehr als recht und billig, wenn auch der Mythos von der schwedischen Sünde langsam zu Grabe getragen würde. Das Gespräch führte Reinhard Wolff, Stockholm