piwik no script img

■ Vom Nachttisch geräumtMäuse und Menschen

In einer Höhle bei Austin in Texas leben zwanzig Millionen Fledermäuse. Jedes Tier hat in dieser Höhle seinen festen Platz. Jede Nacht fliegen in einer exakten Formation alle zwanzig Millionen weg und fressen hundertfünfzig Tonnen Insekten. Ab- und Rückflug sind logistische Meisterwerke. Es gibt keine menschliche Gesellschaft, die auch nur annähernd vergleichbare organisatorische Höchstleistungen bringt. Ein Viertel aller Säugetierarten sind Fledermäuse. Es handelt sich also um eine extrem erfolgreiche Familie. Gleichzeitig sind sie äußerst anfällig. Es gibt Höhlen, in denen Hunderttausende starben, weil Kinder ein paar Knallfrösche hineingeworfen hatten. Diane Ackerman schreibt von Fledermäusen, Alligatoren, Walen, Pinguinen und von Frauen und Männern, die diesen Tieren ihr Leben widmen. Es sind ursprünglich für den New Yorker geschriebene Reportagen. In Costa Rica lebt die größte fleischfressende Fledermausart der Welt. Vampyrum spectrum heißt das Ungetüm mit riesigen Klauen und einer Flügelspannweite von bis zu einem Meter. Diese Fledermausart nährt sich von Vögeln und Ratten. „Sie trägt diese zu ihrer eigenen Wohnung in einem Baumloch, die oft mit den Überbleibseln vorhergehender Mahlzeiten geschmückt ist: Reste von Papageien, Fetzen vom Fell kleiner Nagetiere, Federn von der einen oder anderen Art. Letztlich ist es der Baum, der sich von alldem ernährt – bis hin zur gestorbenen Fledermaus: die Nährstoffe der Verwesung sind des Baumes Lebenssaft. Und so mag sich für manchen die Frage stellen, wer der wahre Fleischfresser sei – die Fledermaus oder der Baum.“ Solche Bemerkungen machen einen wesentlichen Reiz des Buches aus. Der Perspektivwechsel, der einen erst die Welt mit den Augen der Fledermaus sehen läßt und dann mit denen des Baumes, lockt nicht nur die Phantasie, sondern er hält wach, animiert zum Nachdenken und Vergleichen. Man wird durch das Buch nicht nur klüger, weil man Dinge erfährt, die man vorher nicht wußte. Diane Ackerman lehrt uns auch anders sehen. Roger Payne, ihr Gewährsmann für Wale, erzählt ihr nicht nur, daß die Zunge eines ausgewachsenen Blauwals soviel wiegt wie ein Elefant oder daß seine Aorta so groß ist, daß ein Kind bequem in ihr krabbeln könnte, Roger erklärt ihr auch folgendes: „Dort unten in den Tiefen bewegen sich die Wale ganz langsam mit den wandernden Strömungen; dort unten sind die Wale riesige, zarte, wolkengleiche Wesen, nicht nur irgendwelche fleischigen Tiere. Alles, was der Wal tut, geschieht langsam, bedächtig, so außerhalb jedes Zeitgefühls unserer menschlichen Welt. Wenn man die Wale einen ganzen Nachmittag lang beobachtet, erkennt man nicht, was sie wirklich tun. Man sieht nur Dinge, die sehr langsam und dabei anmutig vor sich gehen. Erst später, wenn man sich die Tagesnotizen durchsieht, mag man es vielleicht zusammenbringen und sagen können: ,Mein Gott, dieses Tier hat gespielt. Das war's, was ich beobachtet habe, aber es geschah in einer wesentlich langsameren Geschwindigkeit als die, die ich gewohnt bin.‘ Wale bringen uns so einen neuen Sinn für Zeit bei.“

Diane Ackerman: „Der Mond bei Wal-Licht und andere Abenteuer mit Fledermäusen, Krokodilen und Pinguinen“. Übersetzt von Thomas Jung. Aufbau-Verlag, 349 Seiten, 34 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen