: „Hetze gegen Holland-Tomaten“
Die niederländische Tomaten-Industrie gibt den kritischen deutschen Verbrauchern die Schuld an ihrer Krise, anstatt ihr Produkt zu verbessern ■ Von Falk Madeja
Die Telefonisten der Not-Hotline in München haben eine undankbare Aufgabe. Sie sollen Anrufer besänftigen, die laut Bild in eine regelrechte Tomaten-Panik verfallen sind: „Ich bin im achten Monate schwanger, habe Angst um mein ungeborenes Kind!“ Die Frau soll sich angeblich vor dem Biß in holländische Tomaten fürchten, die wegen sinkender Akzeptanz neuerdings in Kisten mit der Aufschrift „deutsche Produkte“ getarnt werden.
Für die niederländischen Zeitungen gibt es in Deutschland eine regelrechte „Hetze gegen die holländischen Tomaten“. Das niederländische „Zentralbüro für Obst- und Gemüseversteigerungen“ (CBT) läßt das Problem von ihrer deutschen PR-Agentur etwas hölzern so beschreiben: „Holländische Tomaten schmecken besser, als der deutsche Konsument glaubt.“
Glaube hin, Glaube her, das Image des niederländischen National-Gemüses ist ganz unten. Der Skandal um die umetikettierten Tomatenkisten machte überdeutlich: Es ist was faul im „Königreich Tomate“.
„Notfalls auch viereckig“
Die Niederländer drehen zunächst einmal den Spieß um, reagieren auf Sprüche wie „schnittfestes Wasser“ beleidigt. Eilends durchgeführte Tomaten-Blindtests gewannen selbstverständlich holländische Tomaten. Obendrein stockte das riesige Landwirtschaftsministerium (knapp 12.000 Angestellte) den Werbeetat von 30 Millionen Gulden noch einmal um drei Millionen auf. Damit wurden teure Farbanzeigen etwa im Stern geschaltet („Ackern für Deutschland“), und Journalisten erhalten neuerdings aufwendige PR- Heftchen.
Das ist typisch. Jahrzehntelang haben die niederländischen Bauern in Aussehen und Haltbarkeit investiert, den Geschmack aber vergessen. Während die germanische Konkurrenz irgendwann völlig den Trend zu Gemüse verschlafen hatte (nach holländischen Angaben deckt Deutschland nur zu fünf Prozent den Eigenbedarf), verwandelte sich Holland in ein Land, das in der Dunkelheit vom Flugzeug aus wie ein riesiges Fußballstadion bei Flutlicht aussieht. Gewächshaus reiht sich an Gewächshaus; weil Tomaten nicht schlafen dürfen, werden sie rund um die Uhr beleuchtet.
Und die Deutschen kauften lange Jahre wie verrückt: An sogenannten runden Tomaten sowie Fleischtomaten exportierten die Niederländer 1992 insgesamt 285.000 Tonnen nach Deutschland. Obendrein zählen die holländischen Farmer zu den Gewinnern der deutschen Vereinigung, zwischen 1989 und 1991 konnten sie ein Drittel mehr auf den vergrößerten Nachbarmarkt exportieren.
Doch die letzten zwei Jahre entwickelten sich zu einem wahren Alptraum für die holländische Tomatenindustrie: 1993 kauften die Deutschen 17 Prozent und im ersten Halbjahr 1994 noch einmal 21 Prozent weniger Tomaten aus Holland.
Die niederländischen Bauern haben sich die Krise selbst zuzuschreiben. Im Übermut verhöhnten die Holländer sogar die Konsumenten mit Bemerkungen wie, sie können die Tomate „auch viereckig züchten“. Heute greifen immer weniger Deutsche zu den niederländischen Tomaten, weil diese tatsächlich ein reines Industrieprodukt sind.
Der große Irrtum der niederländischen Landwirte, man müsse nur das Marketing verbessern, nicht aber das Produkt, hat dramatische Folgen. Die Tomatenpreise sind für immer weniger Betriebe rentabel, von den noch 20.000 Bauernbetrieben geben Tag für Tag acht bis 15 auf. Von den 1.500 Tomatenzüchtern ist in den letzten Jahren schon ein ganzes Drittel pleite gegangen, Tendenz steigend.
Agrarmilitärisches Ziel: Osteuropa
Schätzungsweise jeder dritte der 110.000 Bauern wird sich in den nächsten zehn Jahren einen neuen Job suchen müssen, beim extra eingerichteten Telefonischen Hulpdienst voor Agrariärs herrscht großer Andrang. Psychologen berichten von der verzweifelten Lage vieler Bauern, die nicht mehr weiterwissen. Fast schon wie Galgenhumor klingen die Sätze in den feinen Broschüren, daß 1994 nur fünf Prozent der Westeuropäer Vegetarier seien, im Jahre 2014 aber könnten schon bis zu 50 Prozent der Menschen auf tierische Produkte verzichten.
Anzunehmen ist, daß die holländischen Bauernfunktionäre sich auskennen, sind doch einige holländische Zwischenhändler in Rinderwahnsinnszeiten mit schuld am schlechten Image von Fleischwaren. Über Holland geriet immer wieder englisches Rindfleisch nach Deutschland.
Aber das Umdenken fällt schwer; beispielsweise wird das Gatt-Abkommen befremdlich interpretiert. Jaap van der Veen (Chef des Produktverbandes) sah die Niederlande zuvor „als Zielscheibe im kalten Handelskrieg mit den USA“. Das sei vorbei, jetzt wolle sich die Niederlande agrarmilitärisch gesehen noch mehr Osteuropa widmen – „wo die Einfuhrzölle zuvor willkürlich erhöht wurden“. Die Wirklichkeit sieht anders aus, denn unter den hoch subventionierten EU-Agrarexporten waren es gerade holländische Lieferungen, die die polnische Landwirtschaft mit Dumpingpreisen in kurzer Zeit fast völlig ruinierten. Viele holländische Bauern haben inzwischen begriffen, daß es so nicht weitergehen kann. Allein nach Dänemark wanderten 1.000 Bauernfamilien aus, wo sie – wie auch in Frankreich und Portugal – viel größere Flächen bewirtschaften können. In Mecklenburg-Vorpommern nennt man sie Tiefladerbauern. Sie bleiben in Holland wohnen, pachten aber in Mecklenburg große Flächen und rücken nur für ein paar Tage mit großer Technik zum Sähen oder Ernten an.
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