: Obdachlose mit Farbfernseher
Mit Polens Wirtschaft geht's bergauf, auch wenn kaum jemand es merkt / Vier Prozent Wachstum, aber stabil hohe Arbeitslosenrate ■ Aus Warschau Klaus Bachmann
Glaubt man den offiziellen Statistiken, so ist 1990 mit der Einführung der Marktwirtschaft in Polen eine Katastrophe über das Land hereingebrochen: Um ein Drittel ging der Fleischkonsum zurück, die Arbeitslosigkeit beträgt 14 Prozent, die Realeinkommen sind um 30 Prozent gefallen, die Zahl der Arbeiter, die weniger Geld als das Existenzminimum haben, hat sich verdreifacht. Alles im Vergleich zur Zeit vor der Wende. Heute streiten sich ausgemergelte Wohnungslose mit verwahrlosten Jugendlichen um die letzten Schlafplätze in der städtischen Kanalisation, überall im Land entstehen Obdachlosenheime und Armenspeisungen, die sogleich überfüllt sind. 82 Prozent der Bevölkerung sind der Ansicht, die Lage sei katastrophal. Unter den Kommunisten war wirklich alles besser, könnte man meinen – wären da nicht andere Zahlen, erhoben zum großen Teil ebenfalls vom Warschauer Statistischen Zentralamt.
Denen zufolge sind die gleichen Leute, die sich weit unter dem Existenzminimum dem Hungertode nähern, gleichzeitig auch Besitzer von Farbfernsehern, automatischen Nähmaschinen, Gefriertruhen und Waschmaschinen. In Westpolen besitzen immerhin schon 82 Prozent der Bevölkerung einen Farbfernseher und 49 Prozent einen Pkw. Laut Statistik ißt die Hälfte der Polen aus Ersparnisgründen nur jeden zweiten Tag eine warme Mahlzeit, gleichzeitig haben aber 60 Prozent der Erwachsenen Übergewicht. Und an der Weichsel sind heute mehr Automobile der Nobelmarke Mercedes zugelassen als in der Schweiz. Zwischen diesen zwei Extremen spielt sich die Wirklichkeit ab. Als 1990 die Regierung Mazowiecki daran ging, in einer beispiellosen Roßkur die zentrale Planung durch den Markt zu ersetzen, hatte sie einen Trumpf gegenüber allen Nachbarn: die private Landwirtschaft. Lebensmittelknappheit drohte Polen nie, obwohl die Landwirte zu den Verlierern der Reform zählen. Statt garantierter Abnahme durch den Staat haben sie es jetzt mit EU-Dumping und überteuerten Krediten zu tun. Der Assoziierungsvertrag mit der EU wurde deshalb auch mit gemischten Gefühlen kommentiert: 1993 brachte er Polen ein Außenhandelsdefizit von zwei Milliarden Dollar. Inzwischen boomt der Export wieder. Vor allem aber sorgt der Tourismus für Deviseneinnahmen. Auch die Bergarbeiter, die Polens Kommunisten von der politischen Bühne streikten, gehören zu den Verlierern. Statt Privilegien erwartet sie die Arbeitslosigkeit. Viele Gruben und Hütten retten nur Subventionen noch vor dem Konkurs. Doch die Privatisierung hat auch Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen lassen. Jeder zweite Pole arbeitet heute in der Privatwirtschaft, die bereits im Handel, Im- und Export und bei den Dienstleistungen dominiert. Immer mehr Kapital aus diesen Sektoren fließt unterdessen in die Produktion.
Eine harte Haushaltspolitik sorgte für eine Jahresinflationsrate von rund 35 Prozent. Vor drei Jahren waren es noch über 500 Prozent. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 14 Prozent, doch ist sie regional sehr unterschiedlich. In Walbrzych (Waldenburg) und im polnischen Osten liegt sie bei bis zu 30 Prozent, in Großstädten wie Poznan (Posen), Warschau, Szczecin (Stettin) und Krakow (Krakau) um die vier Prozent.
Die Politik des knappen Geldes hat dazu geführt, daß Andrzej Normalverbraucher statistisch gesehen in D-Mark heute zehnmal mehr als vor vier Jahren verdient: 400 Mark statt 40 Mark. Da kaum jemand sein Einkommen wirklich voll versteuert, dafür aber eifrig schwarz nach Feierabend dazuverdient, kann man diese Zahl getrost verdoppeln.
Obwohl mit der polnischen Roßkur zahllose soziale Härten verbunden waren, hat bisher jede Regierung – meist entgegen ihrer Ankündigungen im Wahlkampf – am Antiinflationskurs festgehalten. Nicht immer war das ganz freiwillig, denn dahinter steht der Druck von IWF und Weltbank, die neue Kredite nur dann geben, wenn die Haushaltsdisziplin eingehalten wird. Abgesehen von kleinen rechts- und linksextremen Gruppierungen ist deren Rolle in Polen unumstritten, weil sie bisher noch jede Regierung von Experimenten abgehalten haben.
Auch Polens ehemalige Kommunisten, die nun mit der früheren Blockpartei „Polnische Bauernpartei“ die Regierung bilden, machen da keine Ausnahme. Obwohl die Koalition fast seit einem Jahr regiert, ist der Kommunismus nicht wieder ausgebrochen. Vor allem in der Bauernpartei machen sich aber antimarktwirtschaftliche Tendenzen breit: Mehr Subventionen fürs bäuerliche Klientel, Attacken auf den sozialdemokratischen Privatisierungsminister und eine ausgeprägte Vorliebe für vom Staat kontrollierte Monopole, vom Treibstoff, über Tabak bis zur Zuckerverarbeitung, haben für heftigen Koalitionsstreit gesorgt.
Zurückschrauben lassen sich die Reformen nicht mehr. Obwohl der Aktienindex an der Warschauer Börse in diesem Jahr wie ein Wetterfrosch hüpfte, ist der Drang der staatlichen Betriebe hin zum weißen Haus in der Innenstadt ungebremst.
Inzwischen sind dort 28 Firmen zugelassen. Wider Erwarten sind die Investoren und Spekulanten längst nicht nur Ausländer und Neureiche; alle gesellschaftlichen Schichten sind mehr oder weniger proportional vertreten. Selbst Arbeitslose riskieren dort inzwischen ihre Ersparnisse.
Wenn es etwas gibt, was Andrzej Normalverbrauchers Glaube an die Marktwirtschaft erschüttert, so außer der Arbeitslosigkeit die inzwischen fast schon wöchentlich eintretenden Zusammenbrüche polnischer Banken.
Polens außerordentlich liberales Bankenrecht ließ über hundert winzige, kapitalschwache Banken entstehen, die häufig genug nur zur Geldwäsche oder für fingierte, aber sehr einträgliche Bankenkonkurse gegründet wurden. Alles nach dem Motto: Wer kann, der darf. Um wenigstens die Einlagen der kleinen Sparer zu retten, mußte Polens Nationalbank bereits Billionen von Zloty zuschießen und ganze Banken übernehmen.
Gelernt hat man daraus nichts. Nun sprießen Versicherungen wie Pilze aus dem Boden, darunter einige, die mit Geld aus den Bankenkonkursen gegründet wurden. Wer kann, der darf.
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