Bescheidene Segnungen

Ministerpräsident Manfred Stolpe hat sich in Brandenburg vor allem als eines geoutet – als ein Meister der leeren Versprechungen  ■ Aus Potsdam Klaus-Dieter Eule

Potsdam (taz) – Eigentlich könnte Manfred Stolpe die restlichen Wahlkampfauftritte getrost aus dem Terminkalender streichen und sich in der kommenden Woche genüßlich zurücklehnen: Am Sieg seiner SPD und der erneuten Nominierung Stolpes zum Ministerpräsidenten zweifelt ohnehin kaum jemand in Brandenburg. 71 Prozent der Bürger wollen ihn nach jüngsten Umfragen erneut auf diesem Posten sehen. Lediglich eine Handvoll unverbesserlicher Optimisten hängt verzweifelt der vagen Hoffnung nach, daß ein kleines Wunder geschieht und das Land eine ganz andere Regierung erhält. Doch das scheint fernab jeglicher Realität. Für Stolpe und seine Genossen stellt sich lediglich die Frage, wie hoch der Sieg der Sozialdemokraten bei der Landtagswahl am 11. September sein wird. Erhält sie die absolute Mehrheit, wie viele der gerade einmal gut 6.000 SPD-Mitglieder und die Schar ihrer in Potsdam regierenden Politiker heimlich hoffen? Oder sind es nur etwas über 40 Prozent der Stimmen? Dann würde allerdings der Traum von einer roten Alleinregierung in Potsdam wie eine Seifenblase zerplatzen.

Ihre hohe Gunst beim Wahlvolk verdankt die SPD uneingeschränkt Stolpe. Der belegte über vier Jahre bei Meinungsumfragen im gesamten Osten gemeinsam mit seiner streitbaren Sozialministerin Regine Hildebrandt die Spitzenplätze. Wenn auch anderswo in den neuen Bundesländern die Ministerpräsidenten ihre Amtssessel räumten: Stolpe stand stets seinen Mann, produzierte deutschlandweit und international unrühmliche Schlagzeilen, doch so richtig geriet der Boden unter seinen Füßen nie ins Wanken. Fast drei Jahre härtester Stasi-Vorwürfe haben zwar das ohnehin graue Haar des 56jährigen Ex-Kirchenjuristen fast völlig weiß werden lassen, und manchmal sah er zerknirscht und müde aus, doch er bewahrt noch immer sein für jeden verbindliches Lächeln. An einen Rücktritt hat er nach eigenem Bekunden niemals gedacht. Er sei doch „kein Fahnenflüchtiger“ oder: „ich halte durch bis zur letzten Patrone“ sind nur zwei seiner markantesten Aussprüche. Und auch jetzt vor den Landtagswahlen weist er wieder alle aufkeimenden Gerüchte zurück, er wolle irgendwann nach den Wahlen aus dem Amt scheiden und einem Nachfolger Platz machen. „Rücktritt gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten“, verkündete Stolpe.

Die Stasi-Verstrickungen Manfred Stolpes haben dem ihm vom brandenburgischen Wahlvolk entgegenbrachte Vertrauen zu keinen Zeitpunkt auch nur den geringsten Schaden zugefügt: Für die große Masse gilt Stolpe als Symbolfigur und Hoffnungsträger, als eine Art von „Übervater“, der die noch im argen liegenden Dinge schon richten werde. Beim näheren Hinschauen nehmen sich jedoch die Segnungen seiner Regierung recht bescheiden aus. In den vergangenen vier Jahren hat sie es nicht vermocht, das Wegbrechen ganzer Industriezweige wirkungsvoll zu stoppen. Das Nachwachsen des neuen Mittelstandes, der einen großen Teil der freigesetzten Arbeitskräfte auffangen soll, geht weit schleppender als anfangs geahnt voran. Doch den um die Existenz ihrer Betriebe ringenden Arbeitern im Eko-Stahlwerk von Eisenhüttenstadt oder der Märkischen Faser in Premnitz genügte oft nur der feste Händedruck Stolpes, sein joviales Lächeln und ein paar aufmunternde Worte des Premiers, um wieder neue Hoffnung zu schöpfen.

Angekündigt hatte Stolpe im vergangenen Jahr einen Masterplan zur Rettung der industriellen Kerne. Gekommen ist der nicht, und weitere tausende Arbeitsplätze gingen seither verloren. Dennoch rühmt sich die Regierung, in Brandenburg die niedrigste Arbeitslosenrate aller ostdeutschen Länder zu haben. Doch diese Rechnung geht nicht auf, da sie den ungezählten Pendlern, die täglich ihrem Job in Berlin oder im Altbundesgebiet nachgehen, geschuldet ist. Dafür hat Brandenburg bereits andere äußerst fragwürdigen Rekord aufgestellt: Es führt in der Anzahl der Verbrechen bundesweit und nimmt die Spitzenpositionen bei der Pro- Kopf-Verschuldung im Osten ein. Jeder Einwohner steht bereits heute mit gut 7.000 Mark in der Kreide. Doch Stolpe agierte den Hauptteil seiner Amtszeit hinter einem Riesenberg von Stasi-Akten, die von der Berliner Gauck- Behörde auf den Tisch des Landtags geschüttet wurden. Selbst die über weite Strecken zahnlos agierende oppositionelle CDU-Fraktion, die selbst Skandale en gros produzierte, konzentrierte sich abgewandt von der Realität auf die Vergangenheit Stolpes.

Stolpe ist Pragmatiker und Meister der leeren Versprechungen, die sich dann nicht erfüllen, meinen Kenner der politischen Szene in Potsdam. Nur dem Volk falle es noch immer schwer, ihren Regierungschef zu durchschauen. Lediglich die Hornoer in der tiefsten Lausitz, fast an der polnischen Grenze, machten da die unrühmliche Ausnahme. Sie wollen den Stolpe in ihrer Gemeinde nie wieder sehen, tönten sie im vergangenen Jahr. Der hatte ihnen bei seinen Besuchen zuvor immer wieder Mut gemacht und verbindlich erklärt, daß ihr Dorf nicht von den immer näher rückenden Braunkohlebaggern zermalmt werde. Doch dann beschloß seine Kabinettsrunde in Potsdam mit der Bestätigung der Kohlepläne für die Lausitzer Braunkohle AG (Laubag) das Aus für Horno zum Ende dieses Jahrhunderts. Die paar hundert Bürger, die noch immer um die Rettung ihrer Häuser kämpfen, werden Stolpe wohl nie verzeihen und gewiß nicht die SPD wählen. Überhaupt hat die Stolpe-Partei im sogenannten schwarzen Süden Brandenburgs, wo zehntausende Braunkohlekumpel aus den Tagebauen und Brikettfabriken ihren Arbeitsplatz verloren, die wenigsten Anhänger. Dafür etablierte sich die CDU in ihren Hochburgen rund um Cottbus.

Völliges Versagen wird der Stolpe-Regierung beim Wohnungsbau vorgeworfen. In Brandenburg herrscht fast vier Jahre nach der deutschen Einheit noch immer Wohnungsnot. Immerhin schreibt die als fortschrittlich gepriesene und 1992 vom Parlament verabschiedete Verfassung der Landesregierung vor, im Rahmen ihrer Kräfte für die Verwirklichung des Rechts auf eine angemessene Wohnung zu sorgen. Dieser Punkt, ebenso wie das als Staatsziel festgeschriebene Recht auf Arbeit, konnte die Regierung in den zurückliegenden Jahren auch nicht in Ansätzen erfüllen. Nach Meinung von Experten fehlen im Land bis zu 150.000 Wohnungen. Freilich hatte das Kabinett mit dem ersten Bauminister Jochen Wolf, der vor einem Jahr zurücktrat und jetzt die SPD verließ, einen äußerst schlechten Griff getan: Der ließ nur wenige hundert Wohnungen bauen, bereitgestellte Fördermittel mußten anderweitig verwendet werden, da die Förderbestimmungen nicht stimmten und das Geld deshalb nicht abgerufen wurde. Wolf konzentrierte sich statt dessen darauf, unter Mithilfe eines dubiosen Immobilienmaklers sich ein erstklassiges Grundstück in Groß Glienicke in bester Wohnlage am Rande Berlins zum Dumpingpreis unter den Nagel zu reißen. Nach dem Motto „eine Hand wäscht die andere“ soll Wolf dem Makler dabei geholfen haben, billiges Ackerland in lukratives Bauland zu verwandeln. Die Verfehlungen des Ex-Ministers konnte jedoch auch ein extra ins Leben gerufener Untersuchungsausschuß des Parlaments nicht aufklären. Erst mit dem neuen Bauminister Hartmut Meyer (SPD) scheint jetzt Schwung in das Getriebe des Ministeriums zu kommen. Immerhin will er pro Jahr 15.000 Wohnungen bauen lassen.

Nur mit sehr viel Mühe und auch Glück konnte der 58jährige Stolpe sein Kabinett über die Legislaturperiode retten. Der in den ersten beiden Regierungsjahren souverän agierende Innenminister Alwin Ziel (SPD) geriet durch die Aufmärsche von Neonazis in Brandenburg zunehmend unter Kritik. Im Sommer 1993 versammelten sich 800 Rechtsextremisten in Prieros bei Königs Wusterhausen . Sie grölten und sangen faschistische Lieder, doch die Polizei griff nicht ein und schaute zu. Ähnliches wiederholte sich in diesem Juli in Rüdersdorf. Doch der Minister dachte nicht an den von der Opposition geforderten Rücktritt. Lediglich einige leitende Polizisten wurden vom Dienst suspendiert. Zu Aufsehen erregenden Streitereien kam es immer wieder zwischen dem seit 1993 parteilosen Umweltminister Matthias Platzeck und Agrarminister Edwin Zimmermann. Zankapfel zwischen beiden war die Ausweisung neuer Naturschutzgebiete. Für Zimmermann bringen die zu große Beschränkungen und Auflagen für seine Bauern. Im Unteren Odertal forderte er sie sogar auf, Barrieren und Schutzzäune niederzureißen. Der Streit gipfelte in der Forderung, das Umweltministerium aufzulösen und den Naturschutz in das Landwirtschaftsressort zu integrieren. Vier Prozent der brandenburgischen Landesfläche stehen heute unter Naturschutz. Nach dem Willen Platzecks soll sich dieses Gebiet in den nächsten 15 Jahren auf mindestens zehn Prozent erhöhen.

Das erste Mal krachte es im Herbst 1992 so richtig in der Regierung. Damals erhob Bildungsministerin Marianne Birthler – heute Bundessprecherin von Bündnis 90 / Die Grünen – schwere Stasi- Vorwürfe gegen Stolpe und trat zurück. Doch die Koalition überstand diese Krise, wohl nicht zuletzt deshalb, weil der von allen Seiten geschätzte Matthias Platzeck immer wieder moderierend in die Debatte eingriff. Die in den ersten drei Jahren von Stolpe stets vielgepriesene und als „Wiederverwendungsmodell“ bezeichnete Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnis zerbrach schließlich im März dieses Jahres.

Der Stolpe-Gegner und Bündnis-Fraktionschef Günter Nooke hatte Stolpe im Zusammenhang mit den immer noch ungeklärten Umständen der Auszeichnung mit der DDR-Verdienstmedaille im Jahre 1976 einen „Lügner“ geschimpft. Die SPD mußte gemeinsam mit der FDP die restlichen Monate der Wahlperiode mit einer Minderheitsregierung überbrücken. Vor dem Parlament hatte es Stolpe damals abgelehnt, die Vertrauensfrage zu stellen. Selbstbewußt erklärte er, es gäbe keinerlei Grund, das Parlament zum Ort „politischer Schaukämpfe“ zu machen. Ohnehin hätten die Bürger am 11. September bei den Landtagswahlen Gelegenheit, über seine Person und die Politik der Regierung zu entscheiden.

Die meisten Minister gönnten sich in diesem Sommer lediglich einen Kurzurlaub. Der als Frühaufsteher und „Arbeitstier“ bekannte Stolpe verzichtete gänzlich auf eine Erholungspause und organisierte seinen Wahlkampf. Sämtliche Parteien – lediglich die PDS genügt sich von vornherein wiederum mit der Oppositionsrolle – üben sich in „Sandkastenspielen“ zur Neubesetzung der Ministerämter. Vor allem die SPD bläst zum Sturm auf das bisher von der FDP verwaltete Wirtschaftsministerium. Doch die Liberalen, die unbedingt die jetzige SPD-FDP-Koalition in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen wollen, halten tapfer dagegen. Doch keiner weiß, ob sie überhaupt die Fünf-Prozent- Hürde bei den Wahlen überspringen und damit wieder in das Parlament einziehen können. Bei den Europawahlen im Juni kamen sie auf klägliche 2,7 Prozent der Stimmen. Und auch Bündnis 90 / Die Grünen – sie bieten sich ebenfalls trotz der Person Stolpes der SPD als Koalitionspartner an – umreißen bereits klar ihre Ansprüche. Das bereits heute von dem Grünen Roland Resch geführte Bildungsressort soll bleiben, und außerdem müssen eines der Schlüsselministerien für Wirtschaft, Inneres oder Finanzen hinzukommen, wird gefordert.

Die CDU hält sich noch bedeckt. Die ins Gespräch gekommene große Koalition für den Fall, daß die kleinen Parteien den Einzug in den Landtag verfehlen, wird vom christdemokratischen Spitzenkandidaten Peter Wagner als denkbar schlechte Lösung bezeichnet. Eigentlich wolle man nochmals für fünf Jahre in die Opposition, um sich als Fraktion weiter zu profilieren, verkündet er. Danach könne die CDU endlich nach der Regierungsverantwortung in Brandenburg greifen. Gute Karten für Manfred Stolpe.