: Der Heiligen Senhora anvertraut
■ Lateinamerika: Millionen Abtreibungen jährlich trotz Katholizismus und Verbot
Campinas (taz) – Bescheiden? Ganz und gar nicht. Anibal Faundes, Leiter der gynäkologischen Abteilung an der Universitätsklinik in Campinas im brasilianischen Bundesstaat São Paulo, kämpft für die Einhaltung des Rechts. Dies bedeutet in Brasilien viel. Abtreibung ist in dem größten Land Lateinamerikas nur bei Lebensgefahr für die Mutter oder im Falle einer Vergewaltigung erlaubt. Doch in der Praxis kommen legale Abtreibungen aufgrund bürokratischer Hindernisse so gut wie nicht vor. Wenn das Gesetz nicht nur eingehalten, sondern zudem verständnisvoll interpretiert würde, ist der Gynäkologe Faundes überzeugt, eröffneten sich für ungewollt schwangere Frauen erhebliche Möglichkeiten.
Eine typische Äußerung eines machistischen Frauenarztes aus Lateinamerika? Keinesfalls. Der Chef der gynäkologischen Abteilung des renommierten Universitätskrankenhauses in Campinas bekannte kürzlich als erster brasilianischer Arzt, Abtreibungen von mißgebildeten Föten vorgenommen zu haben (die taz berichtete). Unmittelbar vor der UNO-Konferenz über Bevölkerungswachstum und Entwicklung vom 5. bis 13. September in Kairo entfachte der vor achtzehn Jahren nach Brasilien emigrierte Chilene damit erneut eine Polemik gegen die schätzungsweise 1,5 Millionen illegalen Abtreibungen pro Jahr in Brasilien.
Nach einer Studie des Alan Guttmacher Institutes in New York über heimliche Abtreibungen in Brasilien, Kolumbien, Chile, Mexiko, Peru und der Dominikanischen Republik, die in diesem Jahr veröffentlicht wurde, kommen in den sechs lateinamerikanischen Ländern auf zehn Geburten im Durchschnitt vier Abtreibungen. Mexiko verzeichnet mit zwei Abtreibungen auf zehn Geburten die geringste Rate.
Die Autoren der Guttmacher- Studie kommen zu dem Schluß, daß nur die Hälfte der Schwangerschaften wirklich geplant ist. Die ungewollt schwangeren Frauen würden entweder abtreiben (17 bis 35 Prozent) oder ein ungewolltes Kind (20 bis 30 Prozent) gebären. „In Zahlen übersetzt bedeutet dies, daß 8 Millionen Frauen zwischen 15 und 44 Jahren in Brasilien, 1,8 Millionen Kolumbianerinnen, 6,7 Millionen Mexikanerinnen, 1,9 Millionen Peruanerinnen und 350.000 Frauen aus der Dominikanischen Republik Verhütungsmittel sowie Informationen zur Familienplanung benötigen“, heißt es in der Studie.
Katholizismus und Abtreibung schließen sich auf dem lateinamerikanischen Kontinent anscheinend nicht aus. „Jenen habe ich unserer Heiligen Senhora anvertraut. So umschreiben fromme Frauen aus dem brasilianischen Nordosten einen Schwangerschaftsabbruch“, erklärt Maria Coleta Oliveira. Die Leiterin des Zentrums für Bevölkerungsstudien an der Universität „Unicamp“ in Campinas tritt wie die Mehrheit der Einwohner des Bundesstaates São Paulo für die Legalisierung der Abtreibung ein.
Die brasilianische Regierung hat sich dazu durchgerungen, das Thema Abtreibung in Kairo als „Angelegenheit öffentlicher Gesundheitsversorgung“ zu betrachten. Die schätzungsweise 1,5 Millionen heimlichen Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr, so die Begründung, würden den Staat teuer zu stehen kommen. Laut der Studie des Alan Guttmacher Institutes müssen sich rund 40 von 100 Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, in Nachbehandlung begeben. Doch nur ein Drittel der Frauen, die in ihrer Verzweiflung einen Engelmacher aufsuchen, sich mit Medikamenten und Alkohol vergiften oder eigenhändig mit einer Sonde oder Stricknadel den Uterus ausschaben, wird wirklich behandelt. Im vergangenen Jahr wurden in den untersuchten sechs Ländern insgesamt 740.000 Frauen zur Nachfolgebehandlung einer verpfuschten Abtreibung ins Krankenhaus eingewiesen.
„Die Legalisierung der Abtreibung ist in Brasilien eine Frage der Zeit“, ist die Staatsanwältin Luiza Nagib Eluf überzeugt. Der nachträglichen Legalisierung von Abtreibungen mißgebildeter Föten an der Universität „Unicamp“ durch die Justiz von Campinas stimmt sie zu. „Eine Frau kann unmöglich dazu gezwungen werden, ein Kind ohne Überlebenschancen auszutragen. Das ist Folter“, erklärte sie während einer Podiumsdiskussion in São Paulo. Wenn sich der Staat schon nicht um die normalen Kinder kümmere, wie wolle er dann behinderten Jugendlichen helfen?
Die Gynäkologen der Universitätsklinik in Campinas wollen nicht abwarten, bis Brasiliens Volksvertreter sich der Frage der Abtreibung annehmen. Sie planen eine Liberalisierung durch die Hintertür. „Für mich als Arzt genügt es, wenn die Frau mir versichert, sie sei vergewaltigt worden. Warum muß sie sich dies offiziell bescheinigen lassen?“ protestiert Anibal Faundes. Die bewußt aufgebauten bürokratischen Hindernisse führten dazu, daß 99 von 100 Krankenhäusern noch nie eine legale Abtreibung vorgenommen hätten. Erst einmal müßte dafür gesorgt werden, daß die Frauen in der Praxis tatsächlich von ihrem Recht auf Abtreibung im Falle einer Vergewaltigung Gebrauch machen könnten. Anibal Faundes plädiert dafür, die Begriffe „Vergewaltigung“ und „Lebensgefahr“ nicht rein medizinisch zu sehen. „Eine Vergewaltigung“, so der Gynäkologe, „ereignet sich nicht nur auf rein körperlicher Ebene. Und Lebensgefahr besteht bei einer ungewollt Schwangeren auch, wenn sie sich mit Selbstmordabsichten trägt.“ Der brasilianische Ärzteverband (CRM) scheint dem zuzustimmen. In der vergangenen Woche schaltete sich der Verband in die von Faundes ausgelöste Abtreibungsdebatte ein und erklärte klipp und klar: „Brasiliens Gesetzgebung zur Abtreibung ist überholt.“ Astrid Prange
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