■ Theo Waigel fehlt der Mut zur wirksamen Steuerreform: Ein bißchen Kosmetik vor der Wahl
Wahlkämpfe sind bekanntlich Zeiten der Versprechungen. Also bitte genau hinhören: Das Steuerrecht, so hat es Theo Waigel angekündigt, wird ab 1996 vereinfacht. Das freut die Steuerzahler, denn im Steuerdschungel blicken selbst Finanzgenies und Steuerberater langsam nicht mehr durch. Was da aber vom Bonner Finanzminister an konkreten Ansätzen publikumswirksam in die heiße Wahlkampfphase plaziert wurde, dämpft jede Hoffnung auf einen großen Wurf. Eine grundsätzliche Reform des Steuersystems, wie vom Bundesverfassungsgericht seit langem eingeklagt, enhalten die Vorschläge nicht. Im Gegenteil: Scheinbar haben Waigels Rechenkünstler es mit Mühe und Not gerade einmal auf 20 Punkte gebracht, von denen der SPD-Chefökonom Oskar Lafontaine guten Gewissens behaupten darf, es handle sich dabei um „rein kosmetische Operationen“.
Außer einer Kurzveranlagung bei der Einkommenssteuer und der Umstellung auf Schuldzinsenabzug bei der Wohneigentumsförderung werden lediglich neue Pauschalen eingeführt, bestehende Pauschalen angehoben und unterschiedliche Sätze zusammengefaßt. Die nicht zuletzt für mehr Bürgernähe wünschenswerte Transparenz läßt sich mit derartigen Schiebereien genausowenig erreichen wie größere Steuergerechtigkeit.
Mit seinem dezenten Hinweis, für eine radikale Reform des Steuerrechts sei im Bundestag ohnehin keine Mehrheit zu erhalten, stellt sich Theo Waigel außerdem selbst den Unfähigkeitsnachweis aus. Wer bereits im Vorfeld vor den mächtigen und weniger mächtigen Lobbygruppen kapituliert, die für den Erhalt ihrer Steuerprivilegien und Vorteile bis zum Umfallen kämpfen werden, der ist als oberster Kassenwart wohl fehl am Platze.
Wie sehr sich der Finanzminister in dem von ihm mitgeschaffenen und heute unüberschaubaren Steuer- und Schuldengehege verrannt hat, zeigt auch seine Ohnmächtigkeit, das Verfassungsgerichtsurteil zum steuerfreien Existenzminimum und des Familienlastenausgleichs in die Tat umzusetzen. So wird das wichtigste steuerpolitische Vorhaben, das Steuerausfälle von 50 Milliarden Mark verursachen wird, weiter vor sich hergeschoben. Hinter dem kann nur ein Kalkül stecken: Um der Union, der noch immer die Steuerlüge aus dem Wahljahr 1990 in den Knochen steckt, erneute Vorwürfe zu ersparen, will Waigel die Entscheidung erst nach der Wahl treffen. Erwin Single
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