■ In Algerien werden jede Woche 300 Menschen ermordet: Trübe Aussichten
Pro Woche sterben in Algeriens schleichendem Bürgerkrieg durchschnittlich 300 Menschen, bis zu zwei Drittel davon durch die Hände sogenannter Sicherheitskräfte. Bis zu 10.000 Personen sollen niedergemetzelt worden sein, seit die algerischen Machthaber im Dezember 1991 die ersten freien Wahlen des Landes abbrachen. Aus dem nordafrikanischen Staat, der Revolutionären und Internationalisten ehemals als Musterländle galt, ist ein Schlachtfeld geworden. Und je länger der Status quo anhält, desto schlechter stehen die Chancen auf Besserung. Die Diskussionen von AlgerienbeobachterInnen drehen sich derzeit um alte Kamellen: Viele, die im Frühjahr 1992 den „kalten Putsch“ rechtfertigten, weil er angeblich „Schlimmeres“ verhinderte, zweifeln angesichts der tagtäglichen Massaker an ihren damaligen Argumenten. Andere bemerken jetzt, daß in den dreißig Jahren Herrschaft der FLN wenig von den Errungenschaften des Sozialismus zu spüren war. Ja, daß die Einheitspartei – von ihren ausländischen Sympathisanten kaum beachtet – die Grundlage für die Konjunktur des Islamismus schuf.
Während sie diese Rückschau betreiben, arbeiten Politiker in den USA, der Bundesrepublik und anderswo längst an Beziehungen zu der nächsten algerischen Führung. Die US-Regierung unterhält rege Kontakte zur FIS-Spitze, und die Bundesregierung läßt den FIS-Auslandssprecher Rabah Kebir aus seinem Kölner Exil beinahe ungehindert agieren. FIS- Vertreter machen solche Kontakte leicht, denn anders als die iranischen Kleriker oder die palästinensischen Islamisten von Hamas pflegen sie keine antiwestliche Rhetorik. Kebir preist in Interviews gelegentlich gar die „politische Rolle der USA“ und den „deutschen Rechtsstaat“.
In den Außenministerien in Washington und Bonn ist man der Überzeugung, daß das algerische Regime einer von Islamisten geführten Regierung weichen wird. Unklar ist nur, zu welchem Zeitpunkt und nach welchen Regeln. Denkbar sind zwei Szenarien: Entweder der von niemandem gewählte Präsident Liamine Zeroual offeriert den Islamisten eine Teilhabe an der Macht, was diese nur akzeptieren werden, wenn sie tatsächlich in der Politik den Ton angeben dürfen. Oder das ohnehin stark mit Islamisten durchsetzte Militär kehrt Zeroual den Rücken und arrangiert sich mit der FIS. In beiden Fällen wäre der Traum von einem progressiven Staat am Südufer des Mittelmeeres wohl auch für jene beendet, die noch hoffen, die algerischen Militärs könnten den Islamisten den Garaus machen und anschließend demokratische Verhältnisse schaffen. Statt dessen entstünde dann wohl eine triste Theokratie, deren Machthaber sich für die zurückliegende Repression revanchieren werden.
Diese wenig erfreuliche Perspektive bietet anscheinend jedoch die einzige Möglichkeit, den blutigen Status quo zu beenden. FIS-Führer haben wiederholt erklärt, einmal an der Macht, würden sie an guten wirtschaftlichen und politischen Kontakten mit Europa und den USA interessiert sein. Die dortigen Regierungen hätten somit zumindest die Chance, die von FIS-Vertretern zugesagte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzufordern und notfalls durch wirtschaftlichen Druck auch durchzusetzen. Vorausgesetzt, es besteht der politische Wille dazu. Und schließlich müßten die Islamisten dann gegenüber den AlgerierInnen den schwierigen Beweis antreten, daß ihre Herrschaft neben Glückseligkeit auch den versprochenen Wohlstand bringt. Thomas Dreger
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