piwik no script img

Der Highway in die neue Zeit

Bildschirm-Shopping, Videokonferenzen, Teleheimarbeit – alles über neue Datennetze / Datenautobahnen in Deutschland schon trassiert  ■ Von Lorenz Redicker

Berlin (taz) – Geht es um Datenautobahnen und Informationsgesellschaft, ist den Experten kein Superlativ zu hoch. „Datenautobahnen werden einen größeren Einfluß auf die Gesellschaft haben als die Eisenbahn, elektrische Energie und das Telefon“ – so hat Olivetti-Chef Carlo de Benedetti den Bericht „Building the Information Highways“ des European Round Table (ERT) eingeleitet.

Um diesen runden Tisch haben sich 40 Spitzenmanager aus Europas Industrie versammelt. Seit Monaten machen sie mächtig Druck auf die Regierungen in der Europäischen Union – aus Angst, in der wohl wichtigsten Technologie der Zukunft wieder einmal den Anschluß zu verlieren. In den USA dagegen sitzt die Lobby der Datenautobahnen direkt im Weißen Haus: Präsident Bill Clinton und sein Vize Al Gore wollen mit dem Ausbau der Datennetze Amerika in die dritte industrielle Revolution führen. Die „Information Highways“ – eine Wortschöpfung von Al Gore – sollen Grundlage werden für den Einkauf am Bildschirm, die per Datenleitung überspielte CD oder die Videokonferenz mit Wissenschaftlern aus allen Erdteilen.

Europa reagiert. Im Auftrag der EU-Kommission hat die Bangemann-Gruppe, 20 Männer und keine Frau aus Wirtschaft und Politik, einen Aktionsplan erarbeitet. Darin werden von der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte über den Datenschutz und die Finanzierung von Netzen und Anwendungen die Aufgaben beschrieben, die der Gruppe mit dem deutschen EU-Kommissar an der Spitze notwendig erscheinen, um den Anschluß an die weltweiten Highways nicht zu verpassen.

An visionären Szenarios mangelt es nicht. Der Verleger Herbert Burda zum Beispiel hat auf einer Pressekonferenz Anfang Juli in Gedanken bereits den PC im Kinderzimmer mit dem Rechner in der Schule vernetzt, den Fernseher im Wohnzimmer an die großen Versandhäuser und eine Videodatenbank angeschlossen. Morgens werden die Erdnüsse im elektronischen Warenhaus gekauft, abends der passende Spielfilm bestellt. Telearbeit, so erwartet Ulrich Klotz, Technikexperte der IG Metall, werde die Arbeitswelt von Grund auf verändern. Statt im Büro arbeiten die Menschen am Schreibtisch zu Hause oder im Telearbeitszentrum um die Ecke, sind mit der Firma und den Kollegen per PC vernetzt. Ihre Arbeitszeit können sie mehr oder weniger frei einteilen. Gemeinsames Merkmal dieser Gedankenspiele: Schnelle Datennetze umspannen die Erde, Fernseher und Computer, Bild-, Ton-, Daten- und Textkommunikation sind verschmolzen. Die Multimediavision verheißt neue Märkte, Milliardenumsätze – und Macht. „Wer das Spiel bestimmt, ist reich“, sagt Herbert Burda.

Der Optimismus ist bisweilen grenzenlos. Bundesforschungsminister Paul Krüger (CDU) erwartet, daß Telekommunikation nur mit Netze- und Dienste-Umsätzen im Jahre 2005 fünf Prozent zum deutschen Bruttosozialprodukt beiträgt – fast so viel wie die Autoindustrie. Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Dieter Spöri (SPD) hofft auf fünf Millionen neue Jobs beim Ausbau und Betrieb der Netze, bei der Entwicklung neuer Anwendungen und der Produktion der Endgeräte. Schließlich könnten ganz neue Berufe entstehen, in denen Fernunterricht via PC angeboten oder die Ware Information weltweit verhökert wird. Autobahnen waren schon immer für Arbeitsplätze gut.

Die Frage, ob wir die Informationsgesellschaft wollen, ist längst entschieden. Es geht nur mehr darum, wie diese Gesellschaft aussehen soll, was über die Datenautobahnen in die Wohnungen gekarrt wird. „Noch haben wir die Chance, ins Lenkrad zu greifen“, beschreibt Ulrich Klotz die Lage. „Treten wir aber auf die Bremse, dann verzichten wir auf jeden Einfluß!“ Die Bit-Schnellstraßen kommen so oder so – sie sind zum Teil schon da. Entgegen der Klage über den Vorsprung der USA und Japan verfügt Deutschland über ein gut ausgebautes Netz – nach Einschätzung von Experten über das beste der Welt. Nirgends sonst sind so viele Glasfaserkabel verbuddelt worden. Nur werden sie bislang kaum genutzt.

In der Entwicklung von Multimedia-Anwendungen sieht Radu Popescu-Zeletin die deutschen Forscher ebenfalls vorn. Der Informatikprofessor aus Berlin leitet das Institut für offene Kommunikationssysteme der GMD (Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung) und brütet im Rahmen des Projektes Berkom (Berliner Kommunikationssystem) seit acht Jahren aus, was sich mit den Datenautobahnen alles machen läßt.

So wurden zwischen verschiedenen Krankenhäusern Röntgenbilder, Untersuchungsergebnisse und Patientendaten ausgetauscht und medizinische Datenbanken angezapft, um die Möglichkeiten der Ferndiagnose zu prüfen. In anderen Projekten erstellten die Forscher die individuelle elektronische Zeitung, am Computer in der Werkstatt konnten sich Kfz-Mechaniker in Wort und Bild über die die Elektronik des neuesten Mercedes-Modells schlau machen – und gleich dazwischenfragen, wenn ihnen etwas unklar erschien. Über Popescu-Zeletins Apple- Computer schwebt eine kleine Kamera, die ihn bei seinen Gesprächen mit Kollegen in Bonn gestochen scharf ins rechte PC-Bild setzt – auch das ein Erfolg von Berkom.

Am Projekt beteiligt waren außer der GMD unter anderem IBM, Hewlett-Packard, DEC, Siemens und die Fraunhofer-Gesellschaft. Regierungsstellen aus Japan und Singapur haben bereits die Berliner High-Tech-Tüftler um Hilfe gebeten. „Die sind so weit wie wir in den ersten Jahren“, hat Popescu-Zeletin von einem Besuch in Fernost mitgenommen. Die Endgeräte allerdings, Rechner, Drucker, Bildschirme, werden fast ausnahmslos in Japan oder den USA produziert.

Die Berkom-Forscher haben bislang praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit gearbeitet. Erst die Kampagne des Duos Clinton und Gore in den USA hat auch in Deutschland und Europa hektische Aktivität ausgelöst. Politiker und Manager fordern freien Wettbewerb auf den Telekommunikationsmärkten, europaweite Standards und ein „positives Klima“ für die neuen Entwicklungen. Konzerne einigen sich auf die multimediale Zusammenarbeit. So basteln Burda und Bauer mit Microsoft und NCR am interaktiven Fernsehen, die Telekom, Kirch und Bertelsmann arbeiten in der Media Service GmbH an einem Pay-TV- Konzept.

Noch mangelt es in Europa an jeglicher Erfahrung in Sachen Multimedia. Was kommt an bei den KundInnen? Elektronisches Einkaufen, der ganz persönliche Wunschfilm, die Banküberweisung am PC? Sechs Multimedia- Feldversuche in Deutschland sollen darüber Auskunft geben. Der erste startet Ende des Jahres mit fünfzig TeilnehmerInnen in Berlin, beim größten in Stuttgart sind 4.000 Haushalte angeschlossen. Neben der Telekom und Computerbauern suchen Rundfunksender, Verlage und Versandhäuser eine gewinnträchtige Auffahrt zur Datenautobahn.

Eine Stunde Null, einen Starttermin, hat die Informationsgesellschaft nicht. Prognosen fallen schwer. „Wir überschätzen die kurzfristigen Veränderungen“, glaubt Ulrich Klotz, „aber langfristig gesehen wird das dramatische Konsequenzen haben.“

Teil 2 der dreiteiligen Serie über die Informationsgesellschaft am nächsten Montag.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen