Wie in einem Trödelladen

Ein paar Glanzlichter, etwas Kitsch und einige Pflichtübungen beim diesjährigen Edinburgh Festival  ■ Von Sabine Lange

Das Gedränge auf den Straßen ist groß. Grellgeschminkte, bizarr kostümierte Gestalten laufen herum. Hier auf Stelzen, dort im Frack. Hier schlägt einer die Trommel, und überall werden den Passanten Werbezettel in die Hand gedrückt. „Don't miss it“, raunt jeder einem zu. Jede Show ist die beste.

Drei Wochen im Jahr ist Edinburgh nicht wiederzuerkennen. Sonst hübsch, aber verschlafen, erwacht die Stadt regelmäßig im August zum Leben. Tausende von Künstlern aus aller Welt fliegen zu den Festspielen ein, die Zahl der Besucher steigt von Jahr zu Jahr. Kein Bett bleibt frei in dieser Zeit.

Drei Festivals waren es in diesem Jahr, die Massen von ZuschauerInnen anlockten: das Film- Festival, der „Fringe“ und die eigentlichen Internationalen Musik- und Theaterfestspiele. Alle Kassen verzeichneten schon zu Beginn Rekorde. Brian McMaster, Chef des Hauptfestivals, hatte schon Mitte August mehr eingenommen als beim gesamten letzten Festival. Grund für glückliche Gesichter?

Die Meinungen bleiben geteilt. Die „Scottish National Party“ meckerte, McMaster habe in diesem Jahr auf schottische Werke verzichtet. Das sei ein Skandal. So ein Festival könne überall stattfinden, was habe das noch mit Edinburgh zu tun? Auch die EinwohnerInnen beklagten sich, für sie sei das Internationale Festival zu uninteressant. Vom Tattoo ganz zu schweigen. Jugendliche in der Princes Street, die wieder und wieder Melodiefetzen hören, die von der Militärshow den Burgplatz herunterwehen, seufzen angewidert: „O nein, bitte nicht schon wieder ,Amazing Grace‘!“ Die Einwohner finden ihren Spaß höchstens bei den Comedys, den unendlich vielen Angeboten des Fringe Festivals, das den Rahmen des Hauptfestivals bildet. Hier kann jeder ohne Zulassungsbeschränkung auftreten. Über 9.000 Künstler waren diesmal dabei. Von morgens bis spät in die Nacht wurde hier gespielt, das Publikum war meist jung und schätzte die gute Laune.

Was man vom konservativen Publikum des International Festivals nicht behaupten kann. McMaster hat ein konventionelles Programm zusammengestellt, dessen wenige Prisen Moderne kaum ins Gewicht fielen. Er hat damit entsprechendes Publikum angelockt. Von dem Konzept seines Vorgängers Frank Dunlop, Themenschwerpunkte zu setzen, hat er sich weitgehend getrennt. Er liebt, so heißt es, „subtilere“ Strukturen. Einziges Rudiment bildete eine Hommage an Ludwig van Beethoven. Von ihm waren alle Sinfonien zu hören, Sonaten, Quartette. Einen Tag lang konnte man akustisch die Entstehungsgeschichte „Fidelios“ bis zum Endprodukt nachvollziehen. Eine nette Idee, aber warum ausgerechnet der selbst in Schottland gut bekannte Beethoven?

Daß McMaster an die Einnahmen denkt, ist nicht verwerflich. Künstler wollen schließlich bezahlt werden. Aber er soll nicht behaupten, er handele nur aus künstlerischem Instinkt und kümmere sich nicht um den Publikumsgeschmack. Bei Beethoven weiß der Zuschauer, was er hat. Stehen unbekanntere Komponisten auf dem Programm, hört man an der Abendkasse oft die Frage: „Ist das ein moderner Komponist? – Dann gehe ich nicht rein.“ Dieses Risiko hat McMaster mit dem bekannten Klassiker vermieden. Vielleicht wollte er auch das deutsche Publikum anziehen. Da taten es ihm die Pubs gleich. Sie erweiterten ihren Speiseplan um eine Spezialität, die es in Edinburgh noch nicht gab: die „German Frikadellen“.

„Mr. Mac“, wie die Zeitungen den Festspielchef spöttisch-liebevoll nannten, hatte noch andere Lockmittel auf Lager: berühmte Künstler. Er konnte die Rückkehr Carlo Maria Giulinis nach 16 Jahren Festspielabwesenheit ankündigen und wußte, daß damit in der Usher Hall kein Platz frei bleiben würde. Der altgewordene Maestro wurde prompt bejubelt – für seine Vergangenheit. Denn die Leistung in der Gegenwart war enttäuschend durchschnittlich. Zu der Altherrenriege gehören auch Frans Brüggen, der mehr gespenstisch als charismatisch seinen Taktstock hob, und das Borodin- Streichquartett, das sich stolz rühmte, noch Gründungsmitglieder in seiner Mitte zu haben. Das hörte man. Fade und ohne Aussage spielten sie müde ihre Noten herunter. Eine Pflichtübung. Da das Quartett in Edinburgh Tradition hat, wird es wohl im nächsten Jahr wieder dabeisein. Manchmal macht es sich McMaster zu leicht.

Mark Morris gehört mit seinen amerikanischen Tänzern ebenfalls zu den Dauerbrennern. Er allerdings zu Recht. Wie er mit modernen Ausdrucksformen Barockmusik in Bewegung umsetzt, fasziniert. Selten gibt es eine Tanzform, die jede Note aus dem Orchestergraben übernimmt. Daß er in diesem Jahr besonderen Erfolg hatte (unter allen eingeladenen Tanzgruppen blieb er der Favorit), verdankt er einem neuen Theater, das die Edinburgher Welt verändern soll: das Festival Theatre. Bislang mußte sich Morris in kleine oder häßliche Theater quetschen. Mit dem neuen Theater in der Nicolson Street verfügte er diesmal über die „beste Tanzbühne Großbritanniens“ (The Scotsman). Nur hier konnte er sein großangelegtes Meisterwerk „L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato“ präsentieren, und die 1.900 Plätze waren für alle Vorstellungen ausverkauft.

Ebenso erfolgreich debütierte die Australische Oper in Edinburgh. Es war vor allem der Filmregisseur Baz Luhrman (seit „Strictly Ballroom“ ein Star), dessen Opernregie die Fans sehen wollten. Seine Sicht des Brittenschen „Sommernachtstraums“ war so begehrt, daß man sich schon morgens um vier Uhr in der Schlange vor dem Kartenbüro drängelte.

Die britischen Kritiker sehen es nicht gern, daß man in letzter Zeit viel Geld in den (Um-)Bau von Theatern investiert, statt der rezessionsgebeutelten Kunst an sich unter die Arme zu greifen. Dennoch: Die erfolgreichsten (und damit einträglichsten) Vorstellungen liefen im Festival Theatre. Dazu gehörte auch Luc Bondys Inszenierung von „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ (Gastspiel der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz). Sie galt als Meisterleistung, gegen die alle anderen Produktionen des Stücks nicht erwähnenswert seien.

Für das spektakulärste aller Theaterereignisse reichte allerdings der Platz nicht einmal im Festival Theatre: Aischylos' Orestie, siebeneinhalb Stunden Theater in russischer Sprache (Regie: Peter Stein), mußte ins Sportzentrum Meadowbanks verlegt werden.

Es gehört zu den Vorzügen des Festivals, daß man solche Raritäten sehen kann. Jedes Jahr gräbt McMaster unbekannte, vergessene Werke aus und scheut sich nicht, sie mit großem Aufwand aufführen zu lassen. Für Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ bot er einen Riesenchor auf, die Londoner Philharmoniker und neun Solisten. Auch wenn man während der konzertanten Aufführung zu verstehen begann, weshalb die Noten meist im Archiv bleiben, hat man es doch wenigstens einmal gehört. Die Kompositionen des Franzosen Emanuel Chabrier gehörten ebenfalls zu den Seltenheiten aus McMasters Angebot. Teilweise trivial, wird Chabriers Musik in den Opern (-fragmenten) unerwartet gehaltvoll. Seine Orientierung an Zeitgenossen wie Saint-Saäns und Wagner ist unüberhörbar. Um den FestspielbesucherInnen auch den Menschen Chabrier näherzubringen, war der renommierte britische Kritiker und Schriftsteller Gerald Larner beauftragt, eine kleine Chabrier-Revue zu entwerfen. Wieder eine nette Idee – nur war die Ausführung so blamabel (der Chabrier-Darsteller mußte seinen Text ablesen), daß man über die fehlende Professionalität der Beteiligten nur den Kopf schütteln konnte.

Das Edinburgh Festival gleicht immer noch einem Trödelladen, in dem wahllos nebeneinander die unterschiedlichsten Sachen herumstehen. Kitsch neben Kunst, Kostbares neben Tand. Nach so mancher Aufführung verließ man den Saal mit flauem Gefühl, gelangweilt. Aber dann ließ einen plötzlich die pfiffige Regie Tim Alberys (Fidelio) euphorisch nach Hause schweben, der noch recht unbekannte Bariton Boje Skovhus verzauberte das Ohr. Hier breitete die russische Sopranistin Galina Gorchakova ihre Seele vor dem Publikum aus, dort bewies ein kraftvolles, junges Klaviertrio mit Olli Mustonen, Joshua Bell und Steven Isserlis, daß Kammermusik spannend sein kann.

Das Festival bleibt eine zwiespältige Angelegenheit. Außerdem hat McMaster mit erstaunlicher Konsequenz die Aufführungen von Jahr zu Jahr reduziert. Bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren waren es noch 190, in diesem Jahr nur noch 130 Vorstellungen. Schafft man es, sich gezielt die Highlights herauszupicken, kann man begeistert aus Schottland zurückkehren. Ansonsten bleibt die Stimmung gedämpft.