: „Versucht nicht, die Wahrheit zu sagen!“
Zwei Jahre nach der „Befreiung“ Kabuls haben die siegreichen Mudschaheddin eines erreicht: die einst blühende Hauptstadt in Schutt und Asche zu legen. Aus dem vergessenen Krieg in Afghanistan berichten ■ Imtiaz Gul (Text) und Stefan Trappe (Fotos)
Wenn Khalil Shah nach Kabul fährt, dann legt er gern die leidenschaftlichen Lieder von Naghma ein. Lieder über sein kriegszerstörtes Land, gesungen von einer Frau, die selbst aus der afghanischen Hauptstadt vertrieben wurde. Eine Musik, die an die einst friedliche und lebendige Stadt erinnert, in der einst über zwei Millionen Menschen lebten und heute noch vielleicht 600.000 geblieben sind.
Wie Shah verehren die meisten afghanischen Fahrer – bitter enttäuscht von den blutigen Ereignissen der letzten zwei Jahre – die 34jährige schöne Sängerin, denn ihre Stimme erinnert sie nicht nur an die Zerstörung und das andauernde Blutbad in der Hauptstadt, sondern vermittelt auch ein bißchen Hoffnung auf bessere Zeiten.
„Ich genieße mein Leben in Peshawar/ während meine Heimatstadt Kabul in Flammen steht/ kann mir jemand sagen/ wann das zu Ende geht“, heißt es in einem von Naghmas bekanntesten Liedern. Dort singt sie vom Unglück und vom Elend, das Millionen Menschen nicht nur in Kabul, sondern auch im benachbarten Pakistan und im Iran erlebt haben und noch erleben. Es sind Geschichten des Leids und der Hilflosigkeit, die der erbarmungslose Machtkampf der rivalisierenden Mudschaheddin-Führer verursacht hat – in und um Kabul und über die afghanischen Grenzen hinaus, in den pakistanischen Städten wie Peshawar und Islamabad.
Seit April 1992, als die Widerstandskämpfer nach ihrem Sieg gegen Präsident Nadschibullah in Kabul einmarschierten, ist weit mehr von Kabul zerstört worden als während der elf Jahre des Kriegs zwischen den sowjetischen Besatzern und den Mudschaheddin. Kaum ein Gebäude in den großen Kabuler Stadtbezirken ist von Raketen, Bomben oder Artilleriefeuer verschont geblieben, weder in Wazir Akbar Khan oder Karte Nau, in Mikroryan, Tappe Maranjan, Karte Se oder Darulaman. Von der einstmals blühenden Hauptstadt ist wenig mehr als ein Trümmerhaufen geblieben; die Straßen sind übersät von Bombenkratern, das Kommunikationsnetz ist vollständig zusammengebrochen, und Strom gibt es schon lange nicht mehr. Alle Ministerien, bis auf das Innen- und das Außenministerium, haben ihre Pforten geschlossen. Lebensmittel, die zumeist über illegale Bergrouten aus Pakistan hereingeschmuggelt werden, sind knapp. Treibstoff ist nur in kleinen Mengen erhältlich. Die drei vom Internationalen Roten Kreuz (IKRK) geführten Krankenhäuser wurden in der zweiten Augustwoche einer großer Menge lebenswichtiger Medikamente beraubt, als zwei Raketen das IKRK- Lager trafen und dabei nicht nur das Gebäude, sondern auch die Arzneimittelvorräte zerstörten.
Unweit des Präsidentenpalastes in den Neubauten von Mikroryan liegt in einem der dunklen Appartements der sechsjährige Sohrab und hofft auf ein Wunder, das seinen gelähmten Körper wieder aktivieren würde. Sohrab, dessen Vater schon vor einem Jahr bei einem Raketenblitz von der Hezbe-Islami des Mudschaheddinführers Gulbuddin Hekmatjar ums Leben kam, lief Anfang März durch den Bazar von Kher Khana mit seinem großen Onkel Karimpur, als eine Rakete in ein Geschäft einschlug. Ein winziges Schrapnell der explodierten Rakete traf auch den kleinen Sohrab im Rücken, neben der Wirbelsäule.
Im Krankenhaus von Wazir Akbar Khan konnte man ihm nur mit einigen Röntgenaufnahmen und einer mehrtägigen Behandlung helfen. Die Schäden an der Wirbelsäule stellte man erst nach ein paar Wochen fest. Da war es aber zu spät, in Kabul gibt es keinen einzigen Neurochirurgen. Deshalb müßte der Junge eigentlich über die Grenze ins pakistanische Peshawar gebracht werden.
„Dafür habe ich aber kein Geld“, sagt sein Onkel Karimpur leise. Karimpur ist Ingenieur von Beruf und hat bis vor zwei Jahren an der Technikerschule in Kabul gelehrt. Jetzt lebt er von ein bißchen staatlicher Unterstützung und von Spenden. Er muß nicht nur seine fünf Kinder ernähren, sondern ist auch für die vierköpfigen Familie seiner Schwester, der Mutter von Sohrab, verantwortlich. Kurz nach Sonnenuntergang schleichen alle Familienmitglieder in einen Keller runter, um sich zumindest nachts vor den Artilleriegeschossen zu schützen.
Auch der BBC-Korrespondent Mir Waiz, der Mitte Juli von immer noch unbekannten maskierten Landsleuten entführt und anschließend erschossen wurde, hatte den verletzten Sohrab besucht. Der 25jährige Waiz gehörte zu denen, die der Krieg entwurzelt und ins Ausland vertrieben hat. Seine Familie lebte in Peshawar, er selber hatte erst vor drei Jahren seine journalistische Tätigkeit beim BBC und anderen Medien aufgenommen.
Keine der sich bekämpfenden Fraktionen war glücklich über seine Berichterstattung – so sollte dieser Mord an dem jungen Journalisten, der uns immer beiseitegenommen und vor den Gefahren der Hauptstadt und des Landes gewarnt hat, den anderen Reportern eine „Lektion“ erteilen: Versucht nicht, um jeden Preis die Wahrheit zu sagen!
Diejenigen, die heute die Straßen dieser Stadt kontrollieren – Anhänger des Präsidenten Rabbani ebenso wie die des ehemaligen Premiers Gulbuddin Hekmatjar – sind überwiegend Analphabeten. Sie sprechen die Sprache der Gewehre und nicht die Sprache der Kultur. Es sind Hunderttausende, die als zehn- bis fünfzehnjährige mit einem Gewehr gegen die Russen und deren afghanische Truppen in den Bergen gekämpft haben. Nie konnten diese Jungen eine Schule besuchen, noch werden sie jemals eine Gelegenheit dazu haben.
Heute, nach über zwei Jahren der Fraktionskämpfe, sind auch in Kabul fast alle Lehranstalten verlassen: Nicht Lehrer und Schüler besetzen das Universitätsgelände in Karte Sakhi, sondern die Hazara-Mudschaheddin mit ihren Panzern und Kanonen. Die meisten Schulen sehen ganz ähnlich aus. Die Folgen sind katastrophal: die Kinder von Kabul sind seit zwei Jahren ohne Schule und Bildung.
„Sag mir, wohin soll ich den kleinen Feroz schicken“, fragte mich der afghanische Journalist Naeem Haqmal. Er selber hat an der Kabuler Universität und danach in Prag Journalismus studiert, für seinen vierjährigen Sohn aber sieht er keine Perspektive.
Seine Cousine, Quaseem Khan, Professorin der Literatur an der Universität Kabul, ist ebenfalls verzweifelt und ratlos. Viele seiner Kollegen seien gezwungen, Gemüse und Süßigkeiten auf der Straße zu verkaufen, oder bei den Kleinhändlern als Buchhalter zu arbeiten, sagt Khan. Nun wächst eine zweite Generation ohne Bildung heran, fügt der Rektor der Universität, Ameer Hasan Yar, hinzu: „Das ist das Schlimmste, das einem schon unterentwickelten Volk passieren kann“. Das sei der größte Schaden und der schwerste Verlust seines Landes, sagt Yar, daß es nicht nur die Fachkräfte verloren hat, sondern in diesen Zeiten auch keine mehr ausbilden kann.
Selbst wenn die Universität wieder öffnen sollte: „Wer weiß, ob wir dort nach dem Sieg der islamischen Revolution überhaupt noch lehren dürften“, bemerkte ein anderer Professor.
Seitdem die schweren Gefechte im August 1992 angefangen haben, sind mindestens 700.000 Leute aus der Hauptstadt geflohen, zumeist in die östlichen Provinzen, vor allem nach Ningarhar. Darunter waren besonders viele Lehrer, Ingenieure, Ärzte und Verwaltungsfachleute, Männer und Frauen.
Tausende von ihnen harren nun in Zeltlagern um Jalalabad aus, der Hauptstadt Ningerhars, und haben kaum Hoffnung auf Rückkehr. Viele versuchen, sich eine Existenz in Jalalabad aufzubauen, denn das Leben in dieser 200.000 Einwohner zählenden Stadt ist schon fast wieder „normal“. Der Wiederaufbau der zerstörten Straßen, Wohnhäuser, öffentlichen Gebäude und des Funkhauses ist voll im Gange. Die hierher geflohenen Lehrer eröffnen Sprachschulen, die Ärzte Praxen und Drogerien und die Techniker kleine Werkstätten.
Für jene, die in Kabul zur wohlhabenden Elite zählten, beginnt ein völlig neues Leben: In dieser Stadt, die von einem Rat islamistischer Ältester regiert wird, müssen die Frauen den Schleier überwerfen. Ihre Männer sind erstmals gezwungen, genauso hart zu arbeiten wie die Tagelöhner. Autos, Videos, Kino und vielleicht auch der Alkohol gehören zur Vergangenheit.
Das ist aber doch nicht lebenswichtig, meinte Gulistan Ghalib, Produzent des einheimischen Fernsehens. Er wartet immer noch auf den Wiederaufbau des Fernsehsenders. Sein Kollege Mohammed Aman arbeitet als Kellner in einem Ningerharer Restaurant. „Was soll ich sonst machen, ich habe keine andere Arbeit“, sagte Aman, der sich wie Ghalib auf seine künftige Tätigkeit als Fernsehreporter freut.
Nabaela Shah, 38, hatte vor ihrer Flucht eine eigene Arztpraxis. Nun arbeitet sie im Lager Hisarshahi, 30 Kilometer außerhalb von Jalalabad. Ihre Familie hat Kabul verlassen, nachdem ihr Mann Anfang 1994 von einem Raketenschrapnell getroffen wurde. Das Hisarshahi-Lager ist eines der größeren Flüchtlingslager in der Region. Hier leben inzwischen mindestens 120.000 Menschen, die auf die Versorgung des UN-Flüchtlingshilfwerks UNHCR angewiesen sind. Als man sich Anfang Februar für dieses von kleinen Bergen umgebene flache Gelände zur Errichtung des Lagers entschied, gab es hier kaum Wasser, keinen Schutz gegen die eisigen Winde. Der Boden war von Hunderten, wenn nicht Tausenden Minen übersät. Nicht nur hier, sondern im ganzen Land, finden die Minen täglich ihre Opfer.
Einige Kilometer weiter, im Lager Samarkhel, leben 4.000 Familien. Sie kommen überwiegend aus dem nordöstlichen Tagab-Tal, dessen Bewohner fast vollzählig vor den Kämpfen geflohen sind und hier vom Internationalen Roten Kreuz aufgenommen wurden. Weiter in Richtung Pakistan liegen die Lager von Hadda und Mumtaz, wo mindestens 100.000 Menschen gestrandet sind, die eigentlich in das Nachbarland hatten fliehen wollen – einige zum zweiten Mal. Doch das ehedem so gastfreundliche Nachbarland, das seit 1980 mindestens 3,5 Millionen AfghanerInnen Zuflucht gewährte, hat im Frühjahr seine Grenzen dichtgemacht.
Etwa 285 Kilometer östlich von Kabul liegt die pakistanische Grenzstadt Peshawar, die als Hauptquartier der Mudschaheddin und das Wunschziel aller Flüchtlinge diente. Das UNHCR, IKRK, Médecines sans Frontières, schwedische Komitees, Afghanistan Nothilfe und viele vovon der GTZ unterstützte Projekte für die Flüchtlinge ließen sich hier nieder. Das IKRK unterhielt hielt hier ein großes Krankenhaus, wo die afghanischen Kriegsverletzten behandelt wurden.
Mehr als die Hälfte der hierher und in andere pakistanische Orte Geflohenen sind wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Doch in den Straßen Peshawars leben die, die nicht heimkehren können: Zar Gul, 44, zum Beispiel rollt alltäglich durch die Basars auf seinem Rollstuhl, um einige Rupien „zu verdienen“; der einstige Freiheitskämpfer aus der Paktia-Provinz bezahlt damit sein Bett und sein Essen in einer Pension. Seine zehn Kinder und die Frau leben im Flüchtlingslager Sadda, ungefähr 50 Kilometer nördlich der Stadt.
Sein Bein verlor er im Sommer 1989 bei einer Minenexplosion in Sharhre Nau, Paktia. In seinem Leid ist er nicht allein – in Peshawar begegnen einem viele solcher Leute, die im Namen des Islam ihren Führern gefolgt waren und heute im Ausland zum Betteln gezwungen sind. Der eine hat einen Arm, der andere ein Bein oder sogar beide Beine verloren. Dabei haben aber viele sich einen ehrwürdigen Weg gesucht und erkämpft. Zahir Zai beispielsweise, mußte ein Bein wegen einer unheilbaren Infektion amputiert werden, doch hat ihm sein Bruder eine Motorradrikscha gekauft. Heute lebt Zai glücklich mit seinen drei Kindern in einem Lehmhaus. „Ich finde nichts Besseres, als selber mein Brot zu verdienen, ich bin Gott wirklich dankbar“, sagt der in 40 Grad übersteigende Hitze von Peshawar gerötete Fahrer. So freut sich auch der 18jährige Noor Ahmed, denn auch er verdient sein Brot selber bei einem Momin Khan, der vor dem immer noch 30.000-Seelen-Lager in Katscha Garhi, nur 16 Kilometer vom Stadtzentrum Peshawars entfernt, Backöfen herstellt. Nach der Rückkehr mehrerer tausend Familien hat das Geschäft nachgelassen, Khan und Ahmed betrieben das Geschäft weiter, weil sie mittlerweile nicht nur von Backöfen, sondern auch vom Verkauf von frischgebackenen Brötchen, Keks und Kuchen leben.
In Pakistan sind Hunderttausende Afghanen im Teppichhandel, auf dem Bau, im Transportwesen ebenso wie mit der Herstellung von Schmuck und traditioneller Bekleidung beschäftigt – vor allem in Peshawar, Islamabad, Mardan, Quetta und den Grenzstädten. Das Land, das die Grenzen dichtgemacht hat, weil es für die Flüchtlinge allein nicht aufkommen kann, die internationale Öffentlichkeit den Krieg in Afghanistan aber „vergessen“ hat, zeigt sich dennoch großzügig gegenüber den noch im Lande verbliebenen Nachbarn. „Diese Leute sind fast zum Teil des hiesigen Lebens geworden – und auch sonst können wir sie nicht abschieben“, sagt Ilyas Khan, Mitglied der Handelskammer in der Nordwestprovinz.
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