: Vor dem Bahnhof puffen die Loks
Mit Liveshows und Freistichen kämpfen Kleinbordelle um Kunden / Die Hauptstadt bereitet sich auf den Umzug der Bonner Abgeordneten vor ■ Von Peter Lerch
Wer kennt ihn schon noch, den Unterschied zwischen vor dem Bahnhof und hinter dem Bahnhof? Vor dem Bahnhof, sagte man früher, puffen die Loks. Und hinter dem Bahnhof – lockt dafür heutzutage so gut wie gar nichts mehr. Denn zumindest in Berlin sind die Puffs und Bordellbetriebe längst aus der postbahnhoflichen Schmuddelecke raus und über die ganze Stadt verstreut, wo sie als Nobelclubs oder eben als Sexkinos firmieren. Gemäß dem Zeitgeist der Fast-food-, Schneller-Wohnen- und Quickie-Epoche, sind Bordellbesuche längst nicht mehr nur das Privileg grindiger Greise und mittelständischer Parvenüs mit Sektlaune. Wer die einschlägige Arbeiterlektüre aufschlägt und unter der Spalte Geselligkeit und Unterhaltung nachliest, wird mit einem nicht enden wollenden Strom von unzweideutigen Dienstleistungsangeboten konfrontiert, die ihrerseits bloß einen Bruchteil des gewerblichen Liebesmarktes widerspiegeln dürften. Neben den Anzeigen unbehaarter Analitas und Analitos, Gummisklaven, Französinnen, Dominas und anderem Schweinkram, inserieren hier regelmäßig Unterhaltungsfilialen, die sich Sexkinos nennen. Ob „In alter Manier“, „Gabis Sexkino“ oder „Tutti-Frutti-Life“, rund vierzig solcher Veranstaltungsorte werben hier um Besucher. Und Tausende gehen hin. Frei nach dem Motto: Hier bin ich Mensch, hier darf ich Schwein, wird geschnullebatzt, was das Zeug hält, und neben braven Arbeitern, die ihre Mittagspause für ein Schäferstündchen nutzen, zieht es auch Sozialhilfeempfänger und lüsterne Langzeitarbeitslose zu den Damen des ältesten Gewerbes der Welt, sofern sie gut erreichbar in einem der zahllosen Kiez-Sexkinos bereitstehen.
Wie zum Beispiel im Tralala- Club (Name geändert) in der Weddinger Sprengelstraße. Es ist düster, der Eintritt kostet zehn Mark. Auf der Leinwand geben sie einen dieser Filme, in denen wüste Kerle ihren riesigen Schlonks den willfährig dahingeblätterten Damen zeigen. Heiliger Strohsack! Eine Bande geriatrischer Balzhähne lauert lüstern auf den hochlehnigen Holzbänken, während ein paar andere der im Zwei-Stunden- Rhythmus wiederkehrenden Life- Show harren, die das Etablissement so attraktiv macht. Hier läßt sich ein Bauarbeiter mit lehmigen Tretern von einer reizvoll bekleideten Dame in den vollendeten Vierzigern mit ins Kabüffchen ziehen, dort versucht eine junge Frau, dem Akzent nach slawischer Abstammung, einem älteren Herrn eine Runde Fellatio für nur dreißig Mark aufzudrängen.
Und dann geht's los: Zum Disco- Soundtrack schiebt sich eine absonderlich gekleidete Dame einen Peitschengriff in die südlichst gelegene Körperöffnung, wobei sie das Gesicht verzieht, als gäbe es nichts größeres als so ein Stielchen von einer neunschwänzigen Katze. Die Kerle sind ganz hin. Die Dame im mehr als weit ausgeschnittenen Lederdress ist noch mit ihrer Peitsche beschäftigt, und die Musik macht auch noch keine Anstalten abzuklingen, als plötzlich eine Lady neben mir auftaucht und mich fragt, ob ich Lust hätte, mit ihr auf der Bühne ein bißchen zu kopulieren. Dabei fingert sie mir kameradschaftlich am Gemächt rum, als würden wir uns nicht erst seit zehn Sekunden, sondern schon eine halbe Minute kennen. Aus katholischen Gründen verweigere ich die Mitarbeit. Meine kaum spürbare Gegenwehr kommentiert sie mit einem „Wohl schüchtern, wa?“, bevor sie sich zu meiner Erleichterung an einem anderen Kerl zu schaffen macht, um ihn zur Bühnenarbeit zu überreden. Irgendwann gelingt es ihr, einen etwas verarmt aussehenden Mann, ganz offensichtlich Sozialhilfeempfänger, der sich die Ausschweifung vielleicht von der täglichen Dose Aldi-Ravioli abgespart hat, für den Sexjob zu überreden. Die Lust siegt über die Schamhaftigkeit, zumal ihm die Frau versichert, daß er da oben, vom Scheinwerferlicht angestrahlt, ohnehin niemanden erkennen kann. Der Klügere gibt nach. Sie führt ihn in ein Kabüffchen, wo er seine Klamotten ablegen kann, und als er die drei Stufen zum Podest erklimmt, macht er ein Gesicht wie Danton auf dem Weg zum Schafott. Doch frenetischer Beifall der nunmehr sex Zuschauer würdigt seinen Mannesmut. Dann geschieht es: Zum Takt von I love to love versucht er ein halbschlaffes Gerangel auf der willig daliegenden Traudel aus Rosenheim, die vorher als Jaqueline aus Paris angekündigt worden ist, und ihrerseits einen ekstatischen Gesichtsausdruck zum besten gibt, als würde Adonis ihr mit seinem kondomverzierten Hänger die Seele aus dem Leibe stoßen. Schließlich gehört Klappern zum Geschäft; und die Freinummer muß ihren Zweck erfüllen und die Gäste animieren, anschließend ein bezahltes Nümmerchen zu machen. – Im Hinblick auf die anstehende Okkupation der Hauptstadt durch Politiker, die unrasiert und fern der Heimat des Volkes Wohl mehren sollen, darf man sich nicht wundern, mit welchem Tempo die BZ ihren einschlägigen Anzeigenteil erweitert. Schließlich muß man auch der miesen Freizeitsituation der Abgeordneten Rechnung tragen, die ihre tristen Arbeitsessen („Kommt Jungs, holen wir uns 'ne Currywurst ...“) stehendenphalls abarbeiten müssen. Denn seit jeher ist es ein Hobby der parlamentarischen Hinterbänkler, den Akt unter Verzicht des Ehesakraments gegen Geldzahlung auszuüben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen