: Der Erlkönig im Videoclip
■ "Schöne neue Fernsehwelt": Technikeuphorie und Medienschelte beim ersten Mitteldeutschen Medienforum in Leipzig
Zappen ist auch nicht die Lösung. 200 Fernsehprogramme, jedes nur 10 Sekunden angeklickt, da ist der Abend gelaufen, die Laune im Eimer, und die Fernbedienung liegt daneben. Und wie werden dann erst die Programmzeitungen aussehen: dick wie Telefonbücher? Nein, sagt Telekom-Vorstand Gerd Tenzer, das wird alles viel einfacher. Nur Infokanal einschalten, und Sie wissen, was läuft. Gut sortiert nach Spielfilm und Small talk, Glücksrad und Sport. Vor der Glotze lauter mündige BürgerInnen, die sich ruck, zuck durch die Halde checken bis ans Ende ihrer Wünsche. „Aber wie bekomme ich mündige Bürger?“ möchte Superintendent Friedhart Vogel als Vorsitzender der Sächsischen Landesanstalt für neue Medien gern wissen. Die TV-Journalistin Bärbel Romanowski fühlt sich mitschuldig, daß „irre viel Information und Scheiß jeder Art auf die Leute einstürmt“. In seiner Klinik, weiß der Psychologe Hans-Joachim Maaz, werden die Patienten ohne Radio und Fernsehen „wirklich aktiv und, sagen wir, gesünder. Von ,gesund‘ kann man ja gar nicht mehr reden in dieser Gesellschaft.“
Informationsmüll
Schöne neue Fernsehwelten stehen ins Haus. In Leipzig, des Ostens aufstrebender Medienmetropole, wurden sie diese Woche auf dem „Mitteldeutschen Medienforum“ schon mal mit ihren mutmaßlichen Folgen skizziert. Am Ende der drei Diskussionsrunden stand Alarm: „Die Meinungsvielfalt ist bedroht“, warnte der Direktor des Instituts für Europäisches Medienrecht, Dieter Dörr, und Hermann Meyn, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes, setzte hinter diese These gleich „drei Ausrufezeichen“. Eine „Zwei-Klassen-Informationsgesellschaft“ sieht der Hamburger Professor für Politikwissenschaft Hans J. Kleinsteuber kommen, „in einer Gesellschaft, die sowieso auseinanderdriftet“. Gegen den längst auf allen Kanälen wabernden „Informationsmüll“ sollte eine Ethik-Kommission aufgeboten werden, eine Idee, die ja auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte.
„Verteufeln“ wollten die ExpertInnen auf dem Podium die digitale Fernsehvielfalt dennoch nicht. Sie komme ohnehin über uns, also sollten wir das Beste daraus machen. Aber das schnellstens. Zuerst seien die Länder gefordert. Die Medienanstalten müßten gegen die Konzentration der Konzerne vorgehen. Andernfalls werde, so Dörrs Überzeugung, das Bundesverfassungsgericht nachhelfen. Die oberste Rechtsinstanz könne nicht länger dulden, „daß die Medienkonzentration aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus gar nicht so ernst genommen wird“. Peter Glotz, Medienexperte der SPD-Bundestagsfraktion, würde gern „durchleuchten, wem welcher Laden gehört“, und dachte deshalb laut über ein „Gesetz zur Offenlegung der Besitzverhältnisse im Medienbereich“ nach. In vielen Regionen, berichtete DJV-Chef Meyn, erscheine nur eine einzige Lokalzeitung. Die sei oft verschwistert mit der lokalen Hörfunkstation, ohne daß es das Publikum wisse — womit die besorgte Runde wieder beim „mündigen Bürger“ angelangt war.
Medienkunde für Kids
Kultus-Staatssekretär Wolfgang Nowack, SPD-Exot in der Biedenkopf-Regierung, möchte bei den Kindern beginnen. In Sachsen werde ab Herbst in den Klassen 7 und 8 das Fach „Medienpraxis“ gelehrt. Die SchülerInnen bekommen „Sprache und Grammatik der Medien“ vermittelt, sollen lernen, mit ihnen kritisch umzugehen und „auch mal abzuschalten“. Nowack freut sich: „Dann können die Schüler doch mal versuchen, den Erlkönig im Videoclip darzustellen.“
In naher Zukunft wird es technisch möglich sein, sich mit einer Koppelung aus PC, Fernseher und Telefon beliebige Informationen zu beschaffen. Aber wer will das so, wer kann es bezahlen? Krimis nach eigener Wahl aufführen, Reiseprospekte oder Kleinanzeigen durchblättern, ganze Programmfolgen selbst zusammenstellen; der Technische Direktor des Bayerischen Rundfunks, Frank Müller- Römer, entwarf eine „faszinierende Welt“ und relativierte gleich selbst: „Was nehmen wir davon an, was sind Hirngespinste?“ Udo Reiter, Intendant des MDR, vertraut der Überlebenskraft des „guten, alten Vollprogramms“. Innerhalb der nächsten 20 Jahre werde es „keine wesentliche Änderung der Fernsehlandschaft“ geben. Aber er wittert ein Geschäft: Der MDR könnte doch „sein riesiges Archiv an Kriminalfilmen“ auf einem Pay-TV-Kanal parken und so nochmal unter die Leute bringen. Gegen Extra-Gebühr, versteht sich. ZDF-Direktor Albrecht Ziemer erfreute das Podium mit einer gewieften Interpretation der Gebührenordnung: Zahlen müßten die Leute nicht für den wiederholten Schinken, sondern für den „besonderen Übertragungsweg“.
Kostet uns der Einstieg in die Informationsgesellschaft die vom Politologen Kleinsteuber beschriebene „Polarisierung der Gesellschaft“ oder gelingt es, die neue Technik „in einer Art einzuführen, die die Nutzer ernst nimmt und nicht zu Couchpotatoes abstempelt“? Die Frage blieb im Raum, neben dem herzerfrischenden Bekenntnis von Bärbel Romanowski: „Fernsehen kann auch Spaß machen!“ Detlef Krell
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