piwik no script img

■ Wut und Hoffnung des Seamus Heaney, irischer Poet„...und das Licht brach herein“

Die Erklärung der IRA hat alles zum Besseren gewendet. Den ganzen Nachmittag des 31. August saß ich vor dem Radio und hoffte auf Worte, die der Bedeutung des Geschehens gerecht würden. Aber wenn die führenden Politiker und die Kommentatoren sich auch durchaus in gehobener Stimmung zeigten, so begann doch die schiere Menge Geschwätz allmählich klaustrophobische Wirkungen zu erzeugen.

Also ging ich nach draußen, um mich zu sammeln, und plötzlich öffnete sich irgendwo in meinem Hinterkopf eine Klappe, und das Licht brach herein. Ich fühlte mich 25 Jahre jünger. Ich erinnerte mich, wie ich damals die Welt empfand, in den ersten Tagen der politischen Gärung Ende der Sechziger. Wie wir alle über unsere hochentwickelte Vorsicht hinausgetrieben wurden, hinein in den Glauben, eine neue Bewegung und Sprache im Norden bilde eine lohnende und erreichbare Aufgabe.

Aber ich fühlte mich nicht nur befreit, sondern auch wütend. Das Vierteljahrhundert, das wir durchlebt haben, war ein schreckliches schwarzes Loch, und die unermeßlichen Leiden, die jede Partei dieses Konflikts zugefügt und erlitten hat, haben die Situation lediglich auf einen Punkt gebracht, der politisch weniger verspricht, als die Dinge 1968 bereits lagen.

Zu jener Zeit zeigten sich auf nationalistischer Seite Energie und Zuversicht, und bei den Unionisten ein beginnender Liberalismus. Es herrschte ein allgemeiner Aufschwung intellektueller und sozialer Tätigkeit, die Grenze war durchlässiger als zuvor, die sektiererischen Bindungen weniger entscheidend.

Ich erinnere mich insbesondere an eine Woche mit David Hammond und Michael Longley im Mai 68, als wir mit einem Programm aus Liedern und Gedichten durch Schulen, Hotels und Bibliotheken in unionistischen und nationalistischen Gegenden in ganz Nordirland zogen. Das Programm hieß „Raum für Reime“. Der Titel entstammte der ersten Zeile eines Jahrmarktspiels, die lautete: „Platz, Platz, ihr braven Jungs, und gebt mir Raum für Reime“, eine Zeile, aus der eben jener Eifer, jene Ungeduld sprachen, die damals alles beherrschten. Als katholischer Stipendiat für die Queen's University sah ich mich selbst als Symptom einer neuen Zuversicht in der nationalistischen Minderheit; und auf dieser Tournee, die das Northern Ireland Arts Council organisiert hatte, als David Hammond „The Boys of Mullaghbawn“ sang, Michael Longley über „Leaving Inishmore“ schrieb und ich selbst das Gedicht „Requiem for the Croppies“ (Erntearbeiter, d. Red.) las, wurde mir deutlich, daß sich nun endlich im offiziellen Leben des Nordens eine irische Dimension bemerkbar machte.

Damit will ich nicht behaupten, damals sei jedem ein entwickeltes nationalistisches Kulturbewußtsein zu eigen gewesen. Ich will vielmehr sagen, daß „Vielfalt“ sich durchzusetzen begann und ihren Ausdruck fand, lange bevor das Wort zu einer Phrase wurde. Kleine Veränderungen in der Haltung, winzige Annäherungen und Neuanpassungen wurden vorgenommen. Minimale Verlagerungen auf unterschiedlichen Bereichen – künstlerisch, in der Erziehung, politisch – begannen neue Kontakte und Zugeständnisse nach sich zu ziehen. Die Tatsache, daß ich selbst es für möglich hielt, ein Gedicht wie das von den Erntearbeitern vor einem recht gesetzten Publikum von Mittelklasse- Unionisten vorzutragen, war ein solch kleines Symptom für eine neue Toleranz. Ein paar Jahre später wäre natürlich die Lesung in solcher Umgebung als deutlicher Ausdruck der Unterstützung für die Gewaltkampagne der IRA gewertet worden. Und das war nur ein winziges Beispiel für die Art, wie in den siebziger Jahren künstlerische und kulturelle Aktivitäten von der Politik übermannt wurden.

Ich erinnere mich zum Beispiel, wie ich in den ersten Jahren der Krise aufgefordert wurde, für die „Hibernia“ einen Beitrag über Poesie und die Unruhen zu liefern, und statt dessen über John Humes Beitrag dazu schrieb. Ich hatte keinerlei Bedenken, daß dies eine „gefährliche Kreuzung“ sein könnte, aber als die Jahre ins Land gingen und die Situation sich ständig verschlimmerte, wurde auch diese Art lebendigen Austauschs zwischen professionellen Politikern und Künstlern schnell zu einer Sache der Vergangenheit.

Am Mittwoch des 31. August aber empfand ich das Gefühl, jetzt könne sich jeder wieder engagieren. Die Erregung angesichts der neuen Entwicklungen war mehr als bloßer Medienrummel. Selbst Menschen auf der unionistischen Seite gerieten vorübergehend in Versuchung, die Wendung zum Besseren wahrzunehmen. Von den normalen Bürgern in loyalistischen Gebieten war kaum zu erwarten, daß sie vor Freude in die Hände klatschten. Aber dennoch gab es genug positive Reaktionen, daß man vermuten konnte, die vollständige Einstellung der militärischen Aktionen durch die IRA könne auch auf dieser Seite wenigstens eine Änderung in der Einstellung nach sich ziehen.

Keine große Änderung, natürlich. Die Weigerung, irgendeinen Schritt in Betracht zu ziehen, der die zutiefst britische Lebensweise der Ulster-Protestanten untergraben könnte, ist der loyalistischen Gemeinschaft fest eingebrannt, und nach den vergangenen 25 Jahren wäre es dumm und beleidigend, von ihnen zu erwarten, sie sollten ihr Bewußtsein einer eigenen Identität leugnen. Aber es ist weder dumm noch beleidigend, sie um die Zustimmung zu einigen politischen Anpassungen zu bitten, die der nationalistischen Minderheit die gleichen unbestrittenen Rechte im Sinne ihrer irischen Identität bieten.

Die Beendigung der Gewalt bietet die Gelegenheit, Raum zu schaffen – und nicht nur in der politischen Arena, sondern auf der obersten Ebene des Bewußtseins eines jeden –, einen Raum, in dem die Hoffnung wachsen kann. Und Hoffnung meine ich in jenem Sinne, den Václav Havel definierte, denn seine Definition scheint mir jene Art stoischer Klarheit zu besitzen, die jeden Realisten im Norden, sei er britisch oder gälisch, protestantisch oder katholisch, Optimist oder Pessimist, ansprechen sollte.

Hoffnung ist laut Havel etwas anderes als Optimismus. Es ist mehr ein Seelenzustand als eine Reaktion auf das Reale. Es ist nicht die Erwartung, die Dinge würden sich erfolgreich entwickeln, sondern die Überzeugung, etwas lohne die Arbeit dafür, was immer auch dabei herauskommt. Ihre tiefsten Wurzeln liegen im Transzendentalen, hinter dem Horizont. Die offensichtliche Wahrheit darin ist mit Sicherheit etwas, auf das sich ein Friedensprozeß vernünftigerweise aufbauen ließe.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen