: Netzer war nicht in Woodstock
■ Die Symbolfigur der Intellektuellen für die ästhetische Begründung des wahren Fußballs wird heute 50 Jahre alt
Geboren am 14. September 1944 in Mönchengladbach, Schuhgröße 47, Ferrari und langhaarige Freundin, zweimal Meister mit Borussia, zweimal mit Real Madrid, Pokalsieg 1973 (das Tor!): kümmerliche 37 Länderspiele, doch: Mit der Europameisterschaft 1972 wurde Günter Netzer zur Metapher für den anderen, den besseren Fußball. Ans Kreuz hat man ihn fortan genagelt, die Fußballwelt zu retten von ihren Sünden. Jetzt hängt er da oben, ein bisserl irritiert, ein bisserl geschmeichelt. Und in dem Maße, in dem das Spiel trostloser wird, wächst der Ruhm Netzers. Sein Name ist die Sehnsucht nach dem großen Gefühl, das Streben nach dem Ideal, der verzehrende Wunsch nach der Utopie. Heute arbeitet er für die Sportrechteagentur CWL im schweizerischen Kreuzlingen.
taz: Am Wochenende des Woodstock-Konzertes begann die Bundesligasaison 1969/70 mit einer 0:2-Niederlage Mönchengladbachs in Schalke. Aber Netzer spielte nicht mit. War Netzer in Woodstock?
Günter Netzer: [Lacht schallend] Netzer war nicht in Woodstock. Wahrscheinlich hat er sich eine seiner vielen Verletzungen genommen. Natürlich war mir Woodstock ein Begriff. Aber, ich habe immer gesagt: Mein erster Job ist, Fußball zu spielen. Es hätte die Grenzen wesentlich überschritten, daß man zum Trainer sagt: Das Spiel interessiert mich nicht. Ich geh' zum Rockkonzert des Jahrhunderts.
Hauptsächlich waren Sie in jener Zeit, auch im Kopf, damit beschäftigt, Fußball zu spielen?
Natürlich. Das habe ich auch nie außer acht gelassen. Gewisse politische Veränderungen, jene Aufbruchstimmung, die zu der Zeit im Gange war, unbedingt an meiner Person festmachen zu wollen, das ist viel zu weit gegangen.
Was also waren Sie: Rebell oder Spießbürger?
Ich habe nie mehr daraus gemacht, als wirklich vorhanden war. Für einen Fußballspieler war ich außergewöhnlich. Aber es gab keinen Grund, mich in die Nähe der Revolutionäre der 68er Generation zu rücken.
Ein Ferrari-fahrender Diskothekenbesitzer ist tatsächlich nicht das Idealbild eines praktizierenden Revolutionärs.
Weiß Gott nicht.
Waren Sie überhaupt politisch?
Nein.
Haben Sie sich politisch betätigt?
Überhaupt nicht. Ich habe für mich ausgeschlossen, während meiner Fußballerzeit politische Ideen zu entwickeln oder mich intensiv mit Politik zu beschäftigen. Das kann in dieser Fußball-Gesellschaft nicht funktionieren, die absolut leistungsorientiert ist, so fixiert und seit vielen Jahrzehnten festgelegt.
Das ist die Frage.
Nein, es kann nicht anders sein.
Aber bei Weisweiler, hieß es, habe Demokratie geherrscht?
Ja, Demokratie in der Aussprache. Aber es gab eine Hierarchie. Er hatte außerhalb des Platzes das unbedingte Sagen und hat sich jemanden gesucht und in mir gefunden, der auf dem Platz das Sagen hatte und der seine Ideen umgesetzt hat, vielleicht auch viel mehr als nur das. Es funktioniert nicht anders. Wie sollte ein linker Spieler Fußball spielen?
Das wollte ich ja von Ihnen wissen!
Nein! Nein! Ich sage Ihnen ja, daß es nicht funktionieren kann. Es müssen Ordnung, Disziplin herrschen. Typisch deutsche Eigenschaften herrschen in unserem Fußball seit Jahrzehnten. Nicht zuletzt deswegen sind wir erfolgreich gewesen.
Aber die Quelle der Europameisterelf 1972, sagt der Mythos, waren nicht typisch deutsche Fähigkeiten, sondern: Netzers Fähigkeiten. Ihr Biograph, der Feuilletonschreiber Helmut Böttiger, kommt mit Sartre und dessen „Kritik der dialektischen Vernunft“ daher und erklärt jenen großen Fußball mit dem Gruppenprinzip: Netzer löst sich aus der selbstgewählten, apolitischen Isolation und bringt seine Individualität in die Gruppe ein.
Nein. Das ist sicherlich nicht so gewesen. Ich war vorher so wenig Gruppenmensch wie hinterher. Da hat sich nichts daran geändert. Sehen Sie: Ich habe das teilweise sehr amüsiert betrachtet. Daß Literaturkritiker oder irgendwelche Menschen, die Feuilletons schreiben, versuchen, das anders darzustellen als ein Sportreporter, fand ich ganz hervorragend. Ich war begeistert, daß es Menschen gab, die meine Art, Fußball zu spielen, so interpretierten. Das war ein Blickwinkel, den ich nicht hatte. Ich habe meinen Fußball nicht so angelegt, daß die Menschen das so sehen sollten. Das war Intuition, Instinkt, Ausdruck meines Charakters und letzten Endes ein Fußballspiel.
In dem trotz Ihrer Individualität das Ordnungsprinzip herrschte?
Man könnte im Fußball nicht erfolgreich sein, wenn man eine Philosophie der Freiheit verfolgen würde: Wenn die anderen Mannschaften Ordnung haben und Sie keine, werden Sie nie Erfolg haben.
Ordnung ist das Lieblingswort von Berti Vogts.
Ja. Das ist die Fußballwelt.
Also: Wären Sie der Manager des MSV Duisburg, hätten Sie nicht mit der Wimper gezuckt und – wie letzte Woche geschehen – den Torhüter Rollmann suspendiert?
Ja.
Weil er sich aus dieser undemokratischen Ordnung herausbewegt hat.
Sehen Sie: Ich weiß, wenn ich einen solchen Job eingehe, wie die Spielregeln sind. Damit unter dem Strich Freude für die Fans und Anhänger rumkommt, sollte man Erfolg haben. In diesem Erfolgsstreben haben gewisse Dinge einfach keinen Platz. Das meine ich mit Spielregeln. Das war bei mir und Weisweiler aber nicht so. Wir haben uns sehr sachlich über gewisse Dinge unterhalten, die einfach falsch waren. Von ihm falsch gesehen worden sind. Das war für die damalige Zeit sicherlich revolutionär, daß sich ein Spieler auf diesem Niveau mit dem Trainer anlegt, um etwas zu erreichen, für die Mannschaft, für den Erfolg.
Das System muß also rigide sein. Aber es gibt Fluchten. Wenn nämlich der Trainer sagt: „Dieser Spieler hat auf dem Platz alle Freiheiten.“ Worin bestanden Ihre?
Die bestanden darin, mir den Luxus erlauben zu können, weniger zu laufen als die anderen. Ich konnte meine Kraft schonen für kreative Dinge. Ich konnte meinem Trainer klarmachen, daß es eine geniale Idee ist, wenn man eine Abstimmung innerhalb der Mannschaft hervorbringt, bei der man jeden das tun läßt, was er am besten kann.
Ja, aber was bedeutete das für die Individuen Vogts, Bleidick, Müller, Sieloff, Köppel und Wimmer? Deren spontane Subjektivität hatte sich im Grätschen und Rennen auszudrücken.
Völlig richtig. Das bestimmen aber die Fähigkeiten eines jeden einzelnen. Für mich bedeutete es, daß ich meine kreative Art in den Dienst der Mannschaft stellte. Aber: Die anderen sind nicht unterdrückt worden, sie haben das getan, was sie am besten konnten. Das begründete unseren Erfolg.
Wer Netzer sagt, muß Overath sagen. In Böttigers Geschichtsschreibung allerdings gerät nicht jener zu Ihrem Antagonisten, sondern Beckenbauer, der Postlersohn aus Giesing, der sich vor dem Intellektuellen fürchtet und also 1974 dessen fußballerischen Ausdruck Netzer unbewußt abstößt und für die WM den deutscheren Overath wählt?
[Lacht] Beckenbauer hatte keinen Anteil daran, daß ich 1974 nicht gespielt habe. Das ist falsch ... völlig falsch dargestellt. Beckenbauer hat – was man ihm nie zugetraut hätte – plötzlich die Initiative ergriffen und auf Mißstände reagiert. Aber ich habe mir das selbst zuzuschreiben, daß ich nicht gespielt habe, weil ich in keiner guten Verfassung war. Die ist gekommen während der Weltmeisterschaft, als die Mannschaft nicht mehr geändert werden konnte, weil sie dauernd gewonnen hat. Also: Wenn ich in bester Verfassung gewesen wäre, hätte Beckenbauer sicher nicht versucht, den Netzer nicht spielen zu lassen, nur weil der ein bißchen anders war als der Beckenbauer.
Ein Trost: Stellen Sie sich vor, Sie hätten '74 mitgespielt und es wäre dennoch derselbe, ästhetisch unbefriedigende Bürokratenfußball geblieben? Hätte das nicht dem Mythos geschadet?
Das hätte wahrscheinlich nicht sein können, weil ... also, das Wort Bürokratenfußball ist schon übers Ziel hinaus geschossen. Das ist ein teilweise sehr ansehnlicher Fußball gewesen. Und mit Netzer in seiner besten Zeit hat es außergewöhnlichen Fußball gegeben. Aber ihr dürft wirklich nicht vergessen, daß es im Fußball letztlich auf den Erfolg ankommt. Und wie der zustande kommt, ist nur noch in Deutschland relevant. Man darf den einen erfolgreichen Fußball nicht als nicht sehenswert einstufen und den anderen hochloben, der in Mönchengladbach teilweise überhaupt nicht so erfolgreich war, sondern nur schön. Netzer in seiner besten Zeit war: Erfolgreicher Fußball, der faszinierend war in einigen wenigen Spielen. Daraus resultiert auch mein Mythos: daß es anscheinend niemandem gelungen ist, das zu wiederholen oder Gleiches zu tun, daß in diesen wenigen Spielen den Leuten etwas geboten wurde, was sie noch nirgendwo anders gesehen hatten. Heute würde ich sagen: Ja, was die alles erzählen, ist völlig außergewöhnlich. Aber ich kann's auf dem Platz nicht sehen.
Wer erzählt Außergewöhnliches?
Unsere Spieler. Effenberg, zum Beispiel. Der erzählt immer gottweißwas. Was er kann, was er alles tun möchte ... nur auf dem Platz ist er keine Nummer. Verstehen Sie, was ich meine?
Ja. Aber der ist kein großartiger Fußballer. Sein Spiel läßt einen ästhetisch kalt. Und er ist auch kein Rebell. Das ist ja nur Attitüde.
So. Das haben Sie gut gesagt.
Mir wär' lieber, Sie hätten's gesagt.
Wir haben da keine Differenzen. Das seh' ich ganz genau so.
Das Rätsel bleibt: Wo kam Ihr Fußball her? Was wollte, was vermochte er? Und was haben Sie damit zu tun, der Sie ihn gespielt haben?
Die Maler können das, ja. Die können alles ausdrücken. Die reden einen besoffen. Wenn man mein Fußballspiel als Kunst betrachtet hätte ... hat, dann hätte ich diese nicht definieren können, hätte sie nicht in Worte kleiden können. Es ist einfach so gewesen. Es kommt aus mir heraus, ich empfinde das so, ich mache das auch so, aber es steckt keine Idee dahinter. kein Plan. Wissen Sie, was ich meine?
Jetzt muß ich vorsichtig sein, damit ich Sie nicht beleidige. Extremfall: Greil Marcus feiert in seinem Elvis-Buch die Kunst Elvis Presleys, ohne auf die problematisch-simple Struktur von Presleys Hirn einzugehen.
Ich versteh' genau, was Sie meinen. Das kommt in die Nähe. Daß ich erst durch die intellektuelle Szene mit all dem konfrontiert wurde. Was mich erstaunte, auch belustigte, aber wo ich teilweise sagte: Das muß wirklich so sein, daß diese Dinge in dir vorhanden sind, denn sonst hättest du nicht so einen Fußball spielen können. Deshalb konnte man mich auch in kein Schema pressen, denn dann wären diese Dinge verkümmert und verlorengegangen. Diesen Freiraum habe ich mir instinktiv immer gewahrt und habe gespürt, daß das zur Verwirklichung dessen gedient hat, was dann auf dem Platz stattgefunden hat. Ausdrücken konnte ich es nicht.
Sie haben, zum Beispiel bei Freistößen, Netzer-Rituale geschaffen und immer wieder neu inszeniert, die das Publikum tief berührten. Angst, Euphorie, Hoffnung, Zukunftsoptimismus: Lag der Ball erst einmal richtig, schien plötzlich alles möglich.
Völlig richtig. Aber anscheinend hat das sehr viel Unruhe gestiftet. Da war nicht allein der Erfolg, daß nämlich der Ball in vielen Fällen ins Tor geflogen ist. Sondern: Die Betrachtung dieser Ereignisse hat Leute aufmerksam gemacht, die bisher darin überhaupt nichts gesehen hatten und danach das Erlebte nicht mehr allein auf eine Sequenz eines Fußballspiels reduzierten. Aber letzten Endes kam es darauf an, daß der Ball ins Tor ging. Ich habe immer gesagt: Ich muß die besten Voraussetzungen schaffen. Der Ball durfte nicht auf dem Hügel liegen, der durfte nicht im Loch liegen, der durfte nur da liegen, wo ich ihn hingelegt habe.
Eigentlich war es folglich höchst professionell?
Das ist der rote Faden unseres Gesprächs: Es kommt auf den Erfolg an. Hätte ich den Ball eine halbe Stunde hingelegt, und letzten Endes wäre der nicht ins Tor geflogen, was glauben Sie, was da los gewesen wäre? Dann hätte sich einer um der Show willen produziert, aber weder der Mannschaft noch der Sache gedient. Man kann den Netzer nicht als Einzelperson sehen: Ich war Teil eines Ganzen. Ohne die anderen, die wenigen anderen in meiner Umgebung, hätte das mit dem Netzer nie funktioniert. Er hat sich eine Bühne geschaffen, der Netzer, aber zum Wohle des Ganzen.
Das, was Sie auf dem Fußballplatz schufen, haben Sie aber danach nie mehr ausgedrückt?
Ich bin wirklich Perfektionist. Ich habe gespürt und gewußt, daß der Fußball ein Gebiet war, das ich beherrschte und wo ich Fähigkeiten und Möglichkeiten hatte, das auch so auszuleben, wie ich mir das vorstellen konnte. Es gibt kein anderes Gebiet, wo ich das hätte tun können. Wäre ich ehrgeizig gewesen, wäre ich ein zweiter Pelé geworden. Andererseits: Vielleicht konnte ich aber auch nur deshalb so Fußball spielen, weil es nicht die Besessenheit war, die mich Tag für Tag ins Training getrieben hat. Vielleicht hätte es länger angedauert. Nicht nur anderthalb Jahre. Aber Sie merken, daß ich nicht unzufrieden bin. Ich habe nicht den Eindruck, irgend etwas verpaßt zu haben. Für mich war das so, wie es war, hundertprozentig in Ordnung. Interview: Peter Unfried
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