Endlich! Dioxin verweiblicht Männer

Bisher konzentrierten sich Untersuchungen zum Supergift immer auf das Krebsrisiko / Jetzt weist eine amerikanische Studie nach, daß schon wesentlich kleinere Mengen als angenommen gefährlich werden: durch Veränderungen im Hormonhaushalt

Neugeborene Jungen werden bald deutlich kleiner sein als Mädchen. Schuld daran ist Dioxin. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der amerikanischen Umweltbehörde EPA (Environmental Protection Agency), die vorgestern abend in Washington vorgestellt wurde. Der Hormonhaushalt der kleinen Jungen, so steht da zu lesen, reagiert besonders empfindlich auf die alltägliche Belastung mit Dioxinen, denen die Kinder schon im Mutterleib ausgesetzt sind. Dioxin, bisher vor allem als Krebserreger im Visier, ist weit gefährlicher als angenommen. Schon in kleinsten Mengen greift es das männliche Geschlechtshormon (Testosteron) an und bewirkt eine schleichende Verweiblichung.

1991 war es ausgerechnet die Industrie, die auf einer Neufassung der damaligen Dioxin-Studie bestand. Vor allem die strengen Richtwerte für die zumutbare tägliche Dioxinbelastung sollten heraufgesetzt werden. Doch die neuen Forschungsergebnisse liefern statt dessen weitaus gravierendere Argumente für einen sofortigen Ausstieg aus der Chlorchemie. Denn von dort und aus der Metallindustrie stammen die meisten Dioxine.

Jahrelang hatten die Forscher ignoriert, was sie jetzt alarmiert. Immer wieder hatten sie in Versuchen mit Vögeln und Mäusen den Tieren hohe Mengen an Dioxin verabreicht, aber keine Wirkung festgestellt. Der Grund: Bei den Tieren war in erster Linie nach Krebszellen gesucht worden, ohne Erfolg.

In kleingedruckten Fußnoten fand sich in den ersten Studien lediglich die Anmerkung: „Die Tiere konnten sich nicht mehr fortpflanzen.“ Lange hatte man geglaubt, daß in der krebserregenden Wirkung höherer Mengen von Dioxin die größte Gefahr liege. Auch die EPA-Studie bestätigt noch einmal, daß Dioxin, aufgenommen über Fisch, Fleisch und Milch, für einen von 10.000 bis zu einem von 1.000 Krebsfällen in den USA verantwortlich ist. Vor allem Lungenkrebs wird durch Dioxin verursacht.

Doch mehr und mehr wird klar, daß die durch wesentlich kleinere Mengen an Dioxin ausgelösten hormonellen Veränderungen weit häufiger und daher schlimmer sind. Die täglich vom Menschen aufgenommenen 5 bis 50 Milliardstel Gramm (Nanogramm) Dioxin pro Kilogramm Körpergewicht haben, so die EPA, im Immunbereich und im Enzymsystem des Menschen schon größere irreparable Schäden angerichtet.

Im Tierversuch wurden Rhesusaffen über längere Zeit einer Dioxinmenge ausgesetzt, die achtmal niedriger war als der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Bundesgesundheitsamt (BGA) festgesetzte Schwellenwert. Die Affen entwickelten Geschwülste, die nicht krebsartig waren: Gebärmuttergewebe, das außerhalb der Gebärmutter entstanden war.

In anderen Versuchen wurden Einmaldosen, diesmal viermal niedriger als der WHO-Schwellenwert, verabreicht. Muttertiere zeigten da meist gar keine Symptome. Doch bei den empfindlicheren Embryonen kam es zu einer deutlichen Absenkung des Hormons Testosteron. Spätfolgen waren: Vermindertes Wachstum, Mißbildungen, Frühgeburten und sexuelle „Entwicklungsänderungen“, das heißt, ursprünglich männliche Embryonen entwickelten sich in weibliche Richtung weiter. Menschen, die Dioxinen ausgesetzt waren – und auch hier wieder nur vergleichsweise kleinen Mengen – zeigten die gleichen Symptome.

Betroffen ist nicht nur die Bevölkerung der Industrieländer. Dort, wo überdurchschnittlich viel Fisch verzehrt wird, etwa bei den Eskimos oder auch in Schweden, nehmen die Menschen besonders viel Dioxin auf. Bei den Eskimos konnte bereits ein vermindertes Wachstum der männlichen Kinder im Mutterleib festgestellt werden. Die Jungen waren um so kleiner, je größer die Dioxinbelastung der Mutter war.

Dioxin könnte auch eine Hauptursache für den für den seit längerem bekannten Rückgang der Spermienzahl beim Manne sein, schreiben die Autoren der Studie. Dieser Trend begann vor fünfzig Jahren. Der Durchschnittseuropäer büßte seitdem bereits die Hälfte seiner Spermien ein. Ihre Zahl fiel von 113 Millionen pro Milliliter Samenflüssigkeit auf 66 Millionen. Schon mit weniger als 10 Millionen befruchtungsfähigen Spermien gilt ein Mann als zeugungsunfähig. Der Beginn dieses Trends in den vierziger Jahren ist kein Zufall. Seit dieser Zeit wird die Chlorchemie in großindustrieller Weise genutzt.

Ein weiterer Effekt der Dioxinbelastung ist die deutliche Schwächung des Immunsystems. Bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft im dioxinkontaminierten Times Beach in Missouri lebten, fanden sich noch nach zehn Jahren Veränderungen an bestimmten Zellen des Immunsystems. Ein geschwächtes Abwehrsystem bedeutet eine erhöhte Anfälligkeit gegen Bakterien, Viren, Parasiten und krebsauslösenden Faktoren.

Dioxin lagert sich vor allem im Fettgewebe ab. Die chlorierten Kohlenwasserstoffe bilden eine Stoffgruppe von 70 Einzelverbindungen. Das Gift wird in der Chlorchemie und bei der Verbrennung von Medizin- und Haushaltsabfällen freigesetzt.

Das ist sogar die Hauptquelle: In den USA, so die EPA-Studie, stammen 99 Prozent der Dioxine aus der Müllverbrennung. „Noch ist allerdings erst die Hälfte aller möglichen Dioxinquellen bekannt“, sagt Manfred Krautter von Greenpeace. In einer Ergänzung zur EPA-Studie hat Greenpeace einen Maßnahmenkatalog aufgestellt, um den Dioxinausstoß zu verringern. „Unser Ziel ist: kein Dioxin mehr in der Umwelt zu haben“, sagt Krautter. Dafür müsse sofort mit einem stufenweisen Ausstieg aus der Chlorchemie begonnen werden. Für die Massenprodukte der Chlorchemie muß Ersatz gefunden werden. PVC, Lösemittel und dioxinkontaminierte Farbstoffe setzen Dioxine frei, und das nicht nur bei Bränden, sondern auch beim Recycling.

„Die EPA-Studie ist eine schallende Ohrfeige für die etablierten deutschen Toxikologen“, sagt der Dioxin-Experte Uwe Lahl. Lahl nennt weitere Dioxinquellen: Der Hausmüll in den neuen Ländern werde im Winter oft in den eigenen Öfen verfeuert. Die größte Dioxinquelle tue sich allerdings im Herbst auf: Wenn die Blätter herabrieseln, gelangt das von ihnen gespeicherte Gift in den Boden. Susanne Krispin