: Alte Klischees und Vorurteile
■ betr.: „Sind wir machtlos dage gen?“, Leserbrief vom 8.9.1994, dazu „Sich im anderen erkennen“, taz vom 10.9.1994
Manche haben es offenbar immer noch nicht begriffen. Wieder die alten Klischees und Vorurteile: „Das ganze deutsche Volk hat damals die unübersehbaren Signale des Grauens nicht sehen und nicht wahrhaben wollen ...“ Meint der Briefschreiber damit etwa auch die 27.000 KZ-Häftlinge und die 103.000 in den Justizhaftanstalten des Hitler-Staates (Zahlen von 1993)? Die Zahlen für 1943 waren jeweils 200.000.
Gerade die Diskussionen um den 50. Jahrestag des 20. Juli 1944 haben doch wohl klar gezeigt, wie schwierig es war, in einer blutigen Diktatur passiven oder gar aktiven Widerstand zu leisten. Wie einfach ist es dagegen heute als Wohlstandsbürger — die „Gnade der späten Geburt“ wahrnehmend — sich als Richter über die Deutschen, die die Nazizeit erlebten aufzuspielen!
Ich muß eine solche zweifelhafte Geschichtsmetaphysik zurückweisen, die eine ganze Nation für Generationen unter Nationalsozialismus-Verdacht stellen will.
Und so geht es weiter: „Jeder von uns Deutschen muß daher mit der Schuld des Holocaust leben — gleichgültig, ob er als Zeitzeuge unwissentlich an diesem Verbrechen beteiligt war oder ob er die Schuld als Nachfahre nur „geerbt“ hat.“ — Falsch, denn moralisch schuldig kann nur ein einzelner Mensch werden, der mit seinen Handlungen oder Unterlassungen bewußt und nach freier Entscheidung gegen sein Gewissen und sittliche Normen (z.B. Freiheits- und Menschenrechte) verstößt. [...]
Kollektivschuld und Erbsünde gibt es für aufgeklärte Menschen in der Geschichte nicht; eine solche Einstellung würde das Vermächtnis aller Gegner der NS-Barbarei verspielen: von Rudolf Breitscheid über Ernst Thälmann bis Kurt Schumacher, von den Widerstandskämpfern und -kämpferinnen der „Weißen Rose“, der „Roten Kapelle“ und des „Nationalkomitees Freies Deutschland“, von Dietrich Bonhoefer über Julius Leber bis hin zum Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg.
Sie alle haben gehandelt, um das Entsetzliche zu verhindern und die Ehre und Würde des anderen Deutschland wiederherzustellen. Gert Schneider, Berlin
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