piwik no script img

„Was von Mitterrand bleiben wird – Vichy“

Vergangenheitsaufarbeitung auf französisch. Serge Klarsfeld analysiert, warum die politischen Verstrickungen des sozialistischen Staatspräsidenten während der Nazi-Okkupation erst jetzt, am Ende seines Lebens, zur Sprache kommen  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Der Anwalt und Historiker Serge Klarsfeld ist Präsident der „Vereinigung der Söhne und Töchter der aus Frankreich deportierten Juden“. Er hat zahlreiche Bücher über den Holocaust veröffentlicht. Gegenwärtig schreibt er an einem Manuskript über die Deportation jüdischer Kinder. Klarsfelds Recherchen waren die Grundlage für die juristische Verfolgung von antisemitischen Kriegsverbrechen in Frankreich. Am Dienstag abend stellte sich Mitterrand in einem langen Fernsehinterview kritischen Fragen zu seiner Vergangenheit.

taz: Herr Klarsfeld, hat Präsident François Mitterrand Sie bei Ihrer Arbeit über Antisemitismus und Holocaust unterstützt?

Serge Klarsfeld: Ja, besonders in der Affaire Barbie (1). Ich hatte den Präsidenten gebeten, die Rückkehr Barbies nach Frankreich zu organisieren. Und er hat das getan. Er hat immer das Andenken an die Opfer unterstützt. Er schuf das Museum von Izieu (2) und machte per Dekret den 16. Juli zum nationalen Gedenktag, zur Erinnerung an die Razzia vom Velodrome d'Hiver (3).

Vichy: Die jüdische Frage tut immer noch weh

Ist diese Erinnerungsarbeit nicht selbstverständlich?

Ein anderer Präsident hätte das vielleicht nicht getan. Aber Mitterrand stand unter Druck, weil er auch in der anderen Richtung aktiv war. Er legt zum Beispiel jedes Jahr einen Kranz am Grab von Marschall Pétain (4) nieder, außerdem war Mitterrand selbst in Vichy gewesen.

Was denkt die französische Öffentlichkeit heute über das Regime von Vichy?

In den letzten 20 Jahren haben wir es geschafft, ein Vichy-Bild zu schaffen, das sehr kritisch ist. Vorher war die Öffentlichkeit Vichy gegenüber gleichgültig. Das zeigt sich auch bei der Aufnahme der Enthüllungen über Mitterrands Jugend in Vichy (5). Mitterrand hat bei einem Buch mitgemacht, in dem enthüllt wird, daß er von rechts kommt, in Vichy tätig war und daß er Herrn Bousquet (6) gern mochte. Die Öffentlichkeit hat das sehr schlecht aufgenommen. Mitterrand mußte sich im Fernsehen erklären.

Mitterrand hat seine Beziehung zu Bousquet bis 1986 fortgesetzt, weil er so lange nichts von dessen Verantwortung für die Judendeportationen gewußt haben will.

Das ist völlig unmöglich. Mitterrand hat die Judenrazzien von 1942 in der freien Zone erlebt, er wußte genau, daß die Polizei von Vichy diese Razzien organisierte. Ebenso wußte er, daß Bousquet deren Chef war. Der Hohe Gerichtshof der Befreiung gab Bousquet 1949 nur deshalb mildernde Umstände, weil ihm keine Angriffe auf die nationale Verteidigung vorgeworfen werden konnten. Um die jüdische Frage ging es überhaupt nicht.

Wie erklären Sie sich dann solche Äußerungen Mitterrands?

Mitterrand zeigt eine Haltung wie viele Rechte und wie die öffentliche Meinung der Nachkriegszeit: „Es war doch viel besser, daß die französische Polizei die Juden abgeholt hat, weil die viel höflicher war als die deutsche.“ In Wirklichkeit wollten die Deutschen das gar nicht selbst machen. Sie wollten keine Widerstandsgefühle auslösen, und sie hatten gar nicht die Kapazitäten, das zu tun. In der freien Zone gab es im übrigen gar keine Deutschen, und trotzdem wurden dort Juden abgeholt. Seit 1978 habe ich Bousquets Vergangenheit öffentlich gemacht.

Trotzdem gab es nie einen Bousquet-Prozeß, auch keinen gegen den Präfekten Papon (7), der die Deportationen aus Bordeaux zu verantworten hat, oder gegen den Polizeichef Leguay (8). Statt dessen fand in diesem Jahr ein Verfahren gegen den relativ untergeordneten Vichy-Milizionär Paul Touvier statt. Warum?

Leguay wurde von Bousquet gedeckt. Und der hatte wiederum die Protektion von Mitterrand, der ein Verfahren bremste. Bousquet repräsentiert die Regierung von Vichy, die „ja“ zu den Razzien gesagt hat, und Leguay repräsentiert die Pariser Polizei, die die Razzia vom Velodrome d'Hiver organisiert hat. Und die von sich aus vorschlug, daß auch Kinder deportiert würden. Weil sie nicht wußten, was mit den Tausenden von Kindern zu tun wäre. Papon repräsentierte die Präfekten, die Verwaltungsspitzen, die die Razzien in den Provinzen organisiert haben. Touvier repräsentiert die Miliz. Drei Personen standen ganz oben in der Gesellschaft und dann gab es einen, der war entwurzelt. Die wenigen Entwurzelten, die Deklassierten, die wurden verurteilt. Barbie war auch ein Entwurzelter. Er war ja kein Deutscher mehr. Wenn er ein sehr wichtiger Deutscher gewesen wäre, bin ich ich nicht sicher, ob der verurteilt worden wäre.

Wußten Sie damals, warum die Verfahren gegen Bousquet und Papon nicht vorankamen?

Von der direkten Protektion, den freundschaftlichen Verbindungen, davon habe ich erst in den 80er Jahren erfahren. Von Anfang an wußte ich, daß Bousquet und Mitterrand einen ähnlichen politischen Horizont haben. Sie waren 1958 in derselben Partei (UDSR). Außerdem war Bousquet Geschäftsführer des Dépêche du Midi und der hat 1965 die Präsidentschaftskandidatur Mitterrands unterstützt. Sie mußten sich also kennen. Dasselbe gilt für Papon.

Was war Ziel Ihres Engagements?

Wir wollten den Franzosen zeigen, welche Verantwortung Vichy in der jüdischen Frage hat. Zuerst haben wir versucht, die Kriegsverbrecher in Deutschland vor Gericht zu kriegen. Das war von 1971 bis 1979. Die Deutschen wollten die Juden ermorden. Die Franzosen wollten ihren Einfluß auf das nationale Leben beschränken, sie zu Bürgern zweiter Klasse machen, sie denaturalisieren usw. Aber sie wollten sie nicht töten. Aus Staatsraison hat Vichy Juden an Deutschland ausgeliefert.

Hätte Vichy „nein“ zu den Deportationen sagen können?

Vichy wurde nicht die Pistole auf die Brust gesetzt, es gab kein Ultimatum. Und Vichy hatte wichtige Trümpfe in der Hand – wirtschaftlich, militärisch, politisch. Wenn Vichy „nein“ gesagt hätte, wäre dieser Riß durch das Land nicht entstanden, hätte Frankreich den Krieg wirklich gewonnen.

Vichy hätte „nein“ sagen können

Die Bindung zwischen Mitterrand und Bousquet – war das Freundschaft oder eher Komplizenschaft?

Das war Freundschaft. Bousquet war ein außergewöhnlicher Mann; er hätte Präsident oder Premier werden können. Er war der Brillanteste seiner Generation. Aber da er mit einer solchen Vergangenheit keine politische Rolle mehr spielen konnte, beschloß er, Mitterrand zu unterstützen. Das war eine Art, sich selbst wählen zu lassen.

War es möglich, daß er die antisemitischen Gesetze von Vichy nicht kannte, wie er jetzt sagt?

Völlig unmöglich! Er war verpflichtet zu unterschreiben, daß er nicht drei jüdische Großeltern hatte.

Welche Rolle spielte Vichy für Mitterrands Karriere?

Das war der Anfang, auch der Anfang seines politischen Kapitals. Dort traf er auf die Bewegung der Kriegsgefangenen, bei der er sich gut einführte und die ihn auch nach dem Krieg unterstützte. Dort nahm er Kontakt mit der Résistance auf, der er nach der alliierten Landung in Nordafrika beitrat.

Weshalb hat Mitterrand so lange mit seinen Enthüllungen gewartet?

Er wäre nicht Präsident geworden, wenn er seinen Werdegang ehrlich erzählt hätte. Das ist ein bißchen wie bei Kurt Waldheim. Wenn Waldheim gesagt hätte: „Es gibt ein Kriegsverbrecher-Dossier über mich, aber ich bin unschuldig“, wäre er nicht Generalsekretär der UNO geworden. Also hat er gelogen. Mitterrand hat nicht gelogen; er hat es unterlassen, etwas zu sagen. Er hat vorteilhafte Dinge über sich schreiben lassen, etwa, daß er bereits in der Résistance war, als er nach Vichy ging.

In Frankreich kursieren schon seit vielen Jahren Gerüchte über Mitterrands Vergangenheit und seine fragwürdigen Freundschaften. Warum haben weder die Sozialistische Partei noch seine politischen Feinde das zum Thema gemacht?

Die politischen Feinde waren zur Hälfte selbst Pétain-Anhänger. Die anderen waren Gaullisten. Ihr Chef de Gaulle hat Mitterrand die Bescheinigung als Widerständler gegeben. Und die Linke hing von Mitterrand ab. Er war die Lokomotive, die sie an die Macht brachte. Als sie oben waren, haben sie nicht den Ast abgesägt, auf dem sie selber saßen. Erst jetzt, am Ende seiner Herrschaft, haben sich ein paar von ihnen zu Wort gemeldet.

Mitterrand begründet seine Ablehnung von Prozessen gegen Leute wie Bousquet und Touvier mit dem Wunsch nach nationaler Versöhnung. Er spricht sogar von der Gefahr eines Bürgerkrieges zwischen Franzosen.

Das ist doch absurd. Eine Verzögerung juristischer Prozeduren führt doch nicht zur Versöhnung. Im Gegenteil. Sie hat sogar zu dem Mord an Bousquet im vergangenen Jahr geführt. Der Mörder hatte es eigentlich auf Touvier abgesehen. Was für ein Frieden ist das!

Mitterrand hat sich selbst und vielen anderen Franzosen, die kollaborierten...

...Mitterrand hat nicht kollaboriert. Er war in Vichy, aber er hat nicht mit den Deutschen kollaboriert. Daran gibt es nichts zu deuteln. Er ist aus der Kriegsgefangenschaft geflohen. Wenn er Deutschland so sehr geliebt hätte, wäre er geblieben, hätte für die SS gearbeitet. Er suchte statt dessen eine Arbeit in Vichy. Wenig später kommt er in Kontakt zur Résistance und wechselt dahin über. Das ist ein völlig normaler und ehrenwerter Werdegang. Er hätte nur nicht mit Bousquet zu tun haben, keinen Kranz auf dem Grab von Pétain niederlegen und keine juristischen Prozeduren behindern dürfen.

Jedenfalls bedauert Mitterrand nichts. Und das in dem Jahr, in dem es das erste Verfahren gegen einen Franzosen, Paul Touvier, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegeben hat und in dem wegen der 50-Jahr-Feiern für die Befreiung ohnehin mehr als zuvor von Vichy geredet wird. Welche Auswirkungen wird das auf die Vichy-Debatte in Frankreich haben?

Das ist ein Schock. Mitterrand hat versucht, Vichy zu banalisieren. Er hat es unter den bestmöglichen Umständen präsentiert: „Ich bin krank, ich werde morgen sterben, usw.“ Aber es hat nicht funktioniert. Die Leute haben Sympathie mit dem Kranken, aber das andere akzeptieren sie nicht.

Mitterrand bastelt an seinem Mythos

Bleibt die Frage, warum Mitterrand selbst so viel zu den Enthüllungen über seine Vergangenheit beigetragen hat?

Mitterrand wußte wohl, daß auf jeden Fall ein Buch herauskommen würde. Ein schlechtes womöglich. Außerdem weiß er sehr gut, daß nach dem Ende seiner Präsidentschaft erst mal ein paar Jahre lang schlecht über ihn gesprochen werden wird. Für Memoiren hat er keine Zeit mehr. Also will er ein Buch hinterlassen, eines mit Dokumenten, in denen er ausdrückt, was er wirklich damals war. Das ist befriedigend für ihn. Ohne die Geschichte seiner Beziehung zu Bousquet wäre das eine gelungene Sache geworden.

Und wenn Mitterrand einfach gesagt hätte: Ich habe mich in Bousquet getäuscht.

Er will so etwas nicht sagen. Er ist sich selbst treu. Mit Blick auf die Zukunft, glaube ich, daß Mitterrand eine interessante Figur bleiben wird. Es ist keine einfache Persönlichkeit. Er wird Theaterautoren inspirieren, Filmemacher. Nicht als Präsident der Republik. Was von Mitterrand bleiben wird, ist Vichy.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen