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Echte Menschen, echte Emotionen

Premiere Is Watching You: Für eine Fernsehserie lebten sieben Youngsters drei Monate lang in einer WG  ■ Von Thorsten Schmitz

Ralph, 24, liest die Bild am Sonntag, es ist Montag abend.

Gregor, 22, steht neben ihm und summt Bruce Springsteens „Streets of Philadelphia“.

Manou, 24, häckselt am Küchentresen Gemüse und hadert mit ihrem Ratatouille: „Muß ich die Kartoffeln auch schneiden?“

Adriano, 26, verschlingt einen B.Z.-Artikel über käufliche Männer und zündet sich die zweite Zigarette an.

Tanja, 24, ist noch beim Fußballtraining, wollte aber spätestens um 22 Uhr wieder da sein.

Ute, 22, taucht nach einer Stunde aus dem Bad auf, sie hat sich geschminkt und gekleidet, als müsse sie gleich auf den Laufsteg. Dabei gibt es nur Eintopf.

Erci, 21, filmt mit einer Videokamera das friedliche Einerlei.

Es wird noch dauern, bis die Wohngemeinschaft speist. Gregor, der schlaksige Dürre, findet das zum Kotzen – wenn er denn was im Magen hätte: „Ich habe schon seit zwei Tagen nichts Warmes mehr gegessen“, mault er. „Dann hilf mir halt“, fischt ihn Manou an. Mit wenig Liebe zum Detail widmet sich Gregor dem Kartoffelschälen. Und nervt: „Ist es schlimm, wenn meine Kartoffelstücke größer sind als deine?“

Nach drei Stunden versammeln sich die WG-Insassen endlich am Tisch und löffeln ihre Suppe. „Der Hunger treibt's rein“, mosert Ralph. Er grinst und entblößt den Diamanten auf seinem rechten Schneidezahn. Ralph kann Manou auf den Tod nicht ausstehen. Schon nach zwei Tagen unter einem Dach wußte er: „Die könntest du mir nackt auf den Bauch schnallen, und ich würde immer noch um Hilfe rufen.“ Manou dagegen ist überzeugt, daß Macho Ralph Probleme hat mit seiner Sexualität.

Ihr fällt nun plötzlich ein, daß sie Eintöpfe eigentlich „bürgerlich“ findet. Da schmeckt ihr die eigene Suppe nicht mehr. Sie zündet sich eine Zigarette an und kompensiert ihren Hunger mit zwei Büchsen Energy-Drink. Jeden Nachmittag füllt der Vertreter einer „Brainfoodfirma“ zwei Kühlschrankfächer mit der Designbrause.

So spektakulär kann das Leben sein, das wahre Leben sowieso.

Bei aller Mittelmäßigkeit ist diese Wohngemeinschaft in Berlin-Mitte allerdings etwas Besonderes. Was die sieben tun, kann noch so belanglos sein, es wird dokumentiert. In dem Loft gibt es keine lauschige Ecke, Halogenscheinwerfer leuchten jeden Winkel aus. Denn die 700 Quadratmeter große Maisonette-Wohnung, in der einst die Bibliothek der Nationalen Volksarmee ihren Sitz hatte, war drei Monate lang Schauplatz für eine Serie ohne Schauspieler. Hinter den Kulissen taten 70 Mitarbeiter rund um die Uhr Dienst für eine so einfache wie absurde Variante von Reality-TV. Ob sich die Ware für Voyeure gut verkauft, kann man ab heute abend an den Einschaltquoten beim Pay-TV- Sender premiere verfolgen. Um 19 Uhr 30 wird die erste Folge – unverschlüsselt – ausgestrahlt.

„Das wahre Leben“ kennt kein Drehbuch und keine Regieanweisungen. Die sieben Kommunarden, die in drei gemeinsamen Monaten kein einziges Wort über Politik verloren, lebten von Juni bis August ihr Leben auf dem Präsentierteller. Zwei Kamerateams waren ständig präsent, um die Inszenierung von Wirklichkeit festzuhalten. So kamen 900 Stunden Bildmaterial auf über 1.800 Bändern zusammen. 900 Stunden „Wirklichkeit“ werden nun in 14 Folgen à 30 Minuten zum „wahren Leben“ verdichtet. Die Berliner Serie entstand nach einem Vorbild aus Amerika. Dort stellte der Musiksender MTV – erstmals 1992 in New York – eine Wohngemeinschaft zusammen. „The Real World“, das auch von MTV Europe gezeigt wird, erreichte in Amerika eine Million Zuschauer. Zwei weitere Staffeln in Los Angeles und in San Francisco wurden nachproduziert.

An diesen Erfolg will premiere anknüpfen. In einem gigantischen Casting-Verfahren pickte die Produktionsfirma Mediaboard des Markus Peichl aus 4.200 Bewerbern sieben seriengerechte Menschen für ihre künstliche WG heraus. Paradiesvögel hatte man nicht gesucht, sondern „Typen, mit klar erkennbaren Charaktereigenschaften“. Die Produzenten waren darauf erpicht, daß es untereinander knallt.

Tatsächlich flogen die Fetzen nur ein einziges Mal. Vier Stunden hielt die WG in einer Hausnacht Rat, ob Ralph, der Macker, ausziehen sollte. Seine Mitbewohner hatten schon mit der Produktion geredet, Ralph würde trotz verfrühtem Auszug sein Laienspiel-Honorar erhalten. Doch Ralph blieb.

Ansonsten liefen sich die WG- Absolventen in ihrem Loft nicht allzu häufig übern Weg, und wenn, langweilten sie sich zu Tode. In der Produktion kursierte kurze Zeit das Gerücht, man sei drauf und dran, die fade und phlegmatische WG-Belegschaft durch eine fetzigere auszutauschen. Vielleicht hätten dann auch Bauern und Rollstuhlfahrer eine Chance gehabt.

Dabei waren die WG-Macher überzeugt gewesen, sich die Richtigen gegriffen zu haben.

Bis zu zehn Stunden täglich hockten mindestens zehn Leute im Produktionsbereich vor 14 Bildschirmen, auf denen sie live verfolgen konnten, was nur fünf Meter weiter in dem WG-Loft passierte. Wenn was passierte, jagte Regisseur Uli Stein ein Filmteam in die Wohnung nach nebenan. Etwa dann, wenn Ralph sich duschen ging. Der Kameramann war mit Stein per Mikrophon verbunden, und der Regisseur flüsterte ihm Tips ins Ohr: „Geh mal näher an Tanjas Gesicht ran! Halt mal auf Ralphs Hände. Filme Manou, wie sie die Suppe umrührt!“

Kontakt pflegten die „Kids“ der WG mit dem Regisseur nur per Telefon. Schon nach ein paar Tagen nannten sie ihn nur noch „Papa“. Auch den Produktionsmanager, „Mama“ Andreas Fischer, bekamen die Kids nie zu Gesicht. Termine wurden fernmündlich vereinbart.

„Das wahre Leben“, darauf besteht Ex-Tempo-Chefredakteur Peichl, sei ironisch zu verstehen: „Natürlich ist alles, was das Fernsehen zeigt, mehr oder weniger Fiktion.“ Die Hauptrollen in der premiere-WG spielen folglich Menschen, die sich „noch nicht mal mit dem Arsch angucken würden“ (Peichl). Nur der Hang zur Selbst- Promotion trieb die sieben in die Arme von Mediaboard. Premiere indes lockt mit drittklassigen Werbesprüchen: „Nichts wird gestellt, alles ist echt: echte Menschen, echte Geschichten, echte Emotionen, echte Konflikte.“

Ralph ist gelernter Metzger und der einzige Ossi. Er kommt aus Warnemünde und modelt drei Monate im Jahr für Yamamoto und Versace. Manou steht als Barfrau hinter den Theken von Berliner Szenediscos, hat einen Traum („Die Rolle der Sally Bowles in einer Neuverfilmung von Cabaret“) und ist ansonsten esoterisch drauf. Adriano lernt die Szeneberichterstattung beim Pubertätsblättchen Prinz und ist der Auffassung, sein Schwulsein könne anderen helfen: „Ich bin Exhibitionist mit Sendungsbewußtsein. Ich bin schwul und bekenne mich dazu.“ Ute jobbt als Visagistin und kämpft in einer Bürgerinitiative im hessischen Rodgau gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Sie sieht sich und andere so: „Ich weiß, daß ich gut aussehe. Ich weiß aber auch, daß ich nicht dumm bin. Die Jugend ist nicht so, daß sie nur Drogen nimmt und tanzt, aber sonst nichts im Kopf hat.“ Erci lebt als Sohn türkischer Einwanderer in Berlin und moderiert dortselbst beim Radiosender Kiss FM. Sein Credo: „Andere schlagen sich die Köpfe ein, ich rappe mir den Ärger von der Seele.“ Tanja spielt Fußball, fährt Motorrad, hält sich in Bodybuildingstudios fit und ist Berlins erste Feuerwehrfrau. Ihr bester Freund heißt Oskar und ist ein Mischlingsrüde. Vormachen kann man ihr nichts mehr: „Mutter ist tot, Vater hab' ick nich', wer soll mir wat erzählen?“ Gregor besitzt eine Galerie am Prenzlauer Berg, die ihm der Vater finanziert. Er studiert an der Hochschule der Künste und führt ein enthaltsames Leben: er trinkt und raucht nicht und hat keinen Sex – wie er sagt. Dennoch spürt er den Teufel: „In mir steckt der Hang zu Chaos und Exzeß.“

Das Kamerateam, wenn auch unsichtbar, war überall. In dem ganzen Loft waren Videokameras installiert, damit dem Kontrollraum nichts entgehen konnte. Nur im Bad und über den Betten hatte man darauf verzichtet. Nach zwei Wochen aber entdeckten die Bewohner Mikrofone in ihren Schlafzimmern – Big Brother is listening to you. Das sorgte für Irritationen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern. Die Kids machten dicht. Mit ihren Freundinnen und Freunden schliefen sie, wenn überhaupt, fortan lieber außerhalb.

Kein Anschluß für Mediaboard auch am Telefon. Zwar ließen die WGler sich abhören, intime Gespräche aber führten sie nur noch in Telefonzellen. „Du fühlst dich allein in der Wohnung, telefonierst mit Leuten, die dir näher stehen, und hinten sitzen 20, die dir zuhören!“ sagt Ralph. „Ich dachte mir, das müssen die jetzt nicht auch noch mitkriegen.“

An die Kamera jedoch haben sich alle schnell gewöhnt: „Irgendwann hast du die völlig vergessen“, erinnert sich Tanja. Selbst ihre Kollegen bei der Feuerwehr ließen sich durch Licht, Ton und Objektiv nicht aus dem Konzept bringen. Aber Tanjas Freunde scheuten das Medium, der Kontakt zu ihnen glomm während der drei Monate auf Sparflamme: „Die wollten sich nicht filmen lassen.“

„Superpeinlich“ war es Tanja nur zweimal. Morgens um sechs, wenn sie aus dem Bett mußte: „Das ist eine beschissene Situation, wenn du die Augen aufmachst und dir hängt die Kamera in der Fresse.“ Und auch die Kamera im Rücken auf dem Weg zum Kraftsporttraining wurde ihr manchmal lästig: „Die Leute auf der Straße drehen sich um und denken, was ist denn das für eine wichtige Person.“

Nach drei Monaten freiwilliger Sippenhaft wurden die sieben mit einer Aufwandsentschädigung in Höhe von 6.500 Mark wieder ins wahre Leben entlassen. An einem Montag, um 20 Uhr, fand der kollektive Auszug statt. Ob sie sich wiedersehen? „Ich muß erst mal meinen Verfolgungswahn ablegen“, sagt Ralph.

Tanja hat noch damit zu tun, den Abschied am letzten Drehtag zu verkraften: „Ich war schockiert, als wir zum Schluß in den Produktionsbereich rübergingen. Da standen sie dann alle, die Kameraleute, die Regisseure und Produzenten, und haben uns ganz erwartungsvoll angeguckt. Und wir haben die ganz erwartungsvoll angeguckt. Da wurde mir erst klar, was abgelaufen ist. Als ich diese endlosen Fernseher sah, unsere Möbel auf den Bildschirmen, wußte ich: Es ist vorbei. Ich bin aus dem Heulen gar nicht mehr rausgekommen. Wir alle haben geheult und uns in den Armen gelegen.“

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