piwik no script img

Überfälle in Stralsund

■ Polizei ließ Heimkinder im Stich

Berlin (taz) – Da mußte sich erst der Jugendsenator beschweren. Wegen unterlassener Hilfeleistung der Polizei, sandte Thomas Krüger, Berliner SPD-Jugendsenator, eine Dienstaufsichtsbeschwerde zum Innenminister nach Schwerin, und promt reisen Herren vom dortigen Staatsschutz in die Hauptstadt, um einer Sache nachzugehen, die zu bearbeiten seit fast acht Wochen ihre Aufgabe gewesen wäre. Ein Überfall, wie er des öfteren in diesem Sommer an der Ostseeküste vorgekommen ist.

Am Abend des 23. Juli schifft sich in Stralsund eine Gruppe Jungs aus dem Kinderheim „Luisenstift“ aus Berlin auf der holländischen „Stella Maris“ ein. Anderntags wollen die 14 Jungs zu einem Ostseetörn starten. Im Hafen sind Wurst- und Bierbuden aufgebaut, Stralsund feiert die „Einsteintage“. Einige Kids gehen noch einmal an Land, unter ihnen sind auch ein Chinese, ein Türke und ein Junge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Es dauert nicht lange, bis sie von rechten Glatzköpfen gesichtet werden. „Türken raus“, kreischen sie. Die Jungs rennen zur „Stella Maris“ zurück. Zehn Glatzen bauen sich vor dem Schiff auf, werfen Flaschen aufs Deck und brüllen: „Gebt die Ausländer raus, wir wollen sie erstechen.“ Erst als Kapitän Lemmers droht, er sei bewaffnet, verziehen sich die Angreifer. Über den Küstenfunk ruft der Kapitän gegen halb eins nach der Polizei. Die komme gleich, hört er. Aber Lammers und die Berliner Jugendgruppe warten vergeblich.

Gegen zwei Uhr stehen die Glatzen wieder vor dem Schiff, diesmal sind es bereits zwanzig, die die „Auslieferung der Ausländer“ verlangen, andernfalls, drohen sie, werde das Schiff brennen. Mitarbeiter des Kinderheims erinnern sich, daß Lemmers erneut die Polizei über Küstenfunk ruft. Schon zeigt sich die erste Glatze an Deck. Lammers feuert eine Leuchtkugel, das Notsignal der Schiffe, in die Luft. Wieder vertreibt er die Angreifer, und wieder ruft er nach der Polizei.

Fast fünf Stunden nach der zweiten Attacke, dreht endlich ein Boot der Wasserschutzpolizei bei. Ein Protokoll wird aufgenommen, der Einsatzleiter ruft nach der zuständigen Kripo. „Als der Beamte erscheint, quittiert er Unmutsäußerungen meiner Erzieher mit dem Spruch: Behalten sie ihre dämlichen Bemerkungen für sich. Dreht sich um und verschwindet.“ Diese Ignoranz ist es, die den stellvertretenden Heimleiter Salemann noch heute wütend werden läßt. Das Luisenstift stellte eine Anzeige gegen Unbekannt und zusätzlich und „ausdrücklich“ auch gegen die Polizei wegen unterlassener Hilfeleistung.

Dicke Fotobücher legten gestern Staatsschutzmitarbeiter den Jugendlichen vor. Sie sollten fast zwei Monate nach der Tat ihre Angreifer identifizieren. Der Pressesprecher des Schweriner Innenministeriums, Michael Heinrich, erklärte gestern auf Nachfrage, die Ermittlungen wegen unterlassener Hilfeleistung verliefen im Sand. Die Polizei habe „alles Nötige getan“. Annette Rogalla

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen