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Das Schweigen des Unschuldslammes Von Ralf Sotscheck

Die englische Polizei ist nicht gerade bekannt dafür, besonders zimperlich zu sein, wenn es um die Erpressung von Geständnissen geht. Die Birmingham Six, Guildford Four, Tottenham Three und viele andere, die noch in den Gefängnissen sitzen, können ein Lied davon singen. Was sich die Polizei und ihr Psycho-Helfershelfer im Mordfall Rachel Nickell geleistet haben, ist dennoch atemberaubend. Das fand auch Richter Ognall, der den Angeklagten Colin Stagg in der vergangenen Woche nach Hause schickte und den Beamten bescheinigte, nicht recht bei Trost zu sein.

Die 23jährige Rachel Nickell wurde vor zwei Jahren im Stadtpark von Wimbledon gefunden. Sie war am hellichten Tag vor den Augen ihres zweijährigen Sohnes mit 49 Messerstichen getötet worden. Das brutale Verbrechen erregte so viel öffentliche Aufmerksamkeit, daß die Polizei von Anfang an unter Druck geriet. Wie so oft in der Vergangenheit kam den Beamten in dieser Situation der gesunde Menschenverstand abhanden. 548 Männer wurden überprüft, 32 festgenommen, verhört und wiederfreigelassen. Am Ende blieb einer übrig: Colin Stagg, ein Einzelgänger, der sein Schlafzimmer schwarz tapeziert hatte und Bücher über Okkultismus las. Sein Bruder hatte vor acht Jahren eine Frau vergewaltigt und war dafür zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Freilich reichte das alles nicht aus, um Colin Stagg einen Mord anzuhängen.

Deshalb schaltete die Polizei den hauseigenen Psychologen Paul Britton ein. In Großbritannien sind psychologische Täterprofile erst vor zehn Jahren aufgekommen, aber dank sensationslüsterner Presseberichte in Windeseile zur Mythologie erhoben worden – und damit auch Psycho-Guru Britton. Der 48jährige hat in rund 70 Fällen Hintergrundinformationen geliefert und lag dabei oft richtig. Im Mordfall Nickell drängte er jedoch plötzlich in den Vordergrund, sein Gutachten wurde zum Angelpunkt der Ermittlungsarbeiten. Man baute mit Hilfe der Polizistin Lizzie James – ein Pseudonym – eine „Honey trap“, eine Honigfalle. Der 30jährige attraktive Lockvogel schrieb bizarre Liebesbriefe an Stagg, bei denen freilich Britton die Feder führte. Bei einem Treffen im Hyde Park, das auf Tonband festgehalten wurde, offenbarte sie sich sogar als rituelle Kindesmörderin. Stagg reagierte jedoch nicht wie erhofft, sondern war über den angeblichen Kindesmord schockiert. James fuhr schwerere Geschütze auf: Sie versprach Stagg, der noch nie mit einer Frau geschlafen hatte, heißen Sex, wenn er mit ihr auf einer Wellenlänge wäre – mit anderen Worten: Er müßte schon mal jemanden umgebracht haben. Stagg erfand auch prompt einen Mord, aber die Polizistin war nicht zufrieden. Ihr Verhältnis hätte nur dann eine Zukunft, so erklärte sie ihm, wenn er der Mörder von Wimbledon wäre. „Tut mir leid“, antwortete Stagg, „damit kann ich nicht dienen.“

Ende Juli brach Lizzie James die „Beziehung“ zu Colin Stagg ab. Drei Tage später wurde er trotzdem verhaftet. „Mein Leben ist ruiniert“, sagte er nach seiner Freilassung. Der Ruf des Polizeipsychologen ist es ebenfalls: Die Britische Psychologische Gesellschaft hat eine Untersuchung der Methoden Brittons eingeleitet. Die Mordakte Nickell wurde ergebnislos geschlossen.

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