: „Friendly Fire“ in Washington Von Andrea Böhm
Nach der ereignisreichen letzten Woche sind wohl einige erklärende Worte fällig über die Stadt, in der ich lebe. Flugzeuge stürzen in den Garten des Weißen Hauses; ehemalige Crack-Junkies werden zu Bürgermeistern gewählt; Gerichte drohen, die Mitarbeiter des Jugendamtes wegen Unfähigkeit einzusperren; die Schulen bleiben geschlossen, weil die feuerpolizeilichen Verordnungen nicht eingehalten werden – und so weiter und so weiter ...
Dabei ist Washington eigentlich eine schöne Stadt.
Die größte Sorge galt in der letzten Woche natürlich dem wichtigsten Bürger der Stadt, dem Präsidenten. Nun müssen Präsidenten in den USA im Gegensatz zu Bundeskanzlern in Deutschland selten befürchten, mit Eiern oder anderen Lebensmitteln beworfen zu werden. Dafür ist das Risiko größer, daß einzelne Bürger ihren Unmut mit der Schußwaffe zum Ausdruck bringen.
Weil Bill Clinton wie kaum ein anderer seiner Vorgänger dazu neigt, auf die nächstbeste Menschenmenge zuzurennen und Hände zu schütteln, sind die „Secret Service“-Beamten schon tausend Tode gestorben. Metaphorisch gesprochen. Inzwischen haben sich die Bodyguards an die Eskapaden ihres Chefs gewöhnt, Taktik und Training strategisch angepaßt – doch da kam die Attacke plötzlich nicht auf dem Land, sondern aus der Luft. Bill Clinton mag sich damit trösten, daß er, Hillary und Chelsea erstens nicht zu Hause waren, als sich ein gewisser Frank Eugene Corder mit einer einmotorigen Cessna direkt unterhalb seines Schlafzimmers auf den Rasen stürzte; und daß es Corder gar nicht auf den Präsidenten abgesehen hatte: Er wollte auf möglichst auffällige Weise Selbstmord begehen.
In den USA fragen sich die Bürger nun, wie es möglich ist, daß im Machtzentrum der einzig verbliebenen Supermacht ein lebensmüder Hobbypilot um zwei Uhr morgens unter Drogeneinfluß auf Baumwipfelhöhe auf das Weiße Haus zurattern kann und den „Secret Service“-Agenten gerade noch Zeit bleibt, mit einem „Oh Shiit!“ hinter die Büsche zu hechten.
Der erste Teil der Antwort ist einfach: Es war möglich, weil im Tower des „National Airport“ in Washington um diese Zeit kein Mensch mehr den Radarschirm eines Blickes würdigt, auf dem die kleine Cessna schön deutlich zu sehen war. Der zweite Teil der Antwort ist schon schwieriger: Selbst wenn man die Cessna entdeckt hätte, wäre es kaum möglich gewesen, sie aufzuhalten. Corder hat vorgemacht, was mehrere Schriftsteller in Politthrillern schon ausgemalt haben und der „Secret Service“ schon lange weiß: Gegen einen Luftangriff auf das Weiße Haus sind die Beamten so gut wie machtlos – selbst wenn die Fluglotsen in Washington den Radarschirm in Zukunft auch nachts im Augen behalten.
Angeblich tragen Scharfschützen auf umliegenden Dächern Flugabwehrraketen mit sich herum. Doch da der Präsident auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, dürfte er wissen, daß es um die Zielgenauigkeit dieser Waffen nicht zum besten bestellt ist und sein Weißes Haus nach einem solchen Einsatz aussehen könnte wie unlängst das russische Parlament in Moskau. „Friendly Fire“ – so heißt das im Militärjargon.
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