: Amokfahrt zur deutschen Einheit
■ Autofahrer preschte am 3. Oktober 1990 in die Menschenmenge am Brandenburger Tor und verletzte acht Menschen schwer / Prozeß wegen versuchten Mordes
„Nichts, nichts, nichts!“ Gleich dreimal verneint der Angeklagte den Vorwurf des Richters, doch bemerkt haben zu müssen, daß er mit seinem Auto Menschen angefahren habe. Bei der gestrigen Prozeßeröffnung gegen einen ehemaligen Pförtner vor dem Landgericht geht die Staatsanwaltschaft von versuchtem Mord in mehreren Fällen aus. Laut Anklageschrift soll der 51jährige Mann am frühen Morgen des 3. Oktober 1990 mit seinem Pkw an der Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße in eine Menschenmenge gefahren sein, die dort die Wiedervereinigung feierte, und acht Menschen schwer verletzt haben.
Um einer Bestrafung zu entgehen, habe er beschlossen, nunmehr durch die Menschenmenge hindurch zu entkommen – mit dem Auto. Dabei soll er, so die Anklageschrift weiter, den Tod einzelner Fußgänger zumindest billigend in Kauf genommen haben. Anschließend habe er den Rückwärtsgang eingelegt und die Kreuzung trotz der unverändert dichten Menschenmenge rückwärts fahrend erneut mit hoher Geschwindigkeit überquert. Durch diese Tat sollen acht Fußgänger zum Teil schwer verletzt worden sein.
Am ersten von insgesamt sechs anberaumten Verhandlungstagen schilderte der Angeklagte zunächst die Ereignisse aus seiner Sicht. Er habe gemeinsam mit seiner Frau die Wiedervereinigung vor dem Fernsehgerät gefeiert und dabei acht Dosen Bier und eine Flasche Korn geleert, bevor er um 23 Uhr ins Bett gegangen sei. Gegen 1.15 Uhr habe vor seinem Haus ein Container gebrannt und er sei durch die Löscharbeiten der Feuerwehr aufgeweckt worden. In der Absicht, seinen in der Nähe des brennenden Containers geparkten Opel in Sicherheit zu bringen, sei er losgefahren, um einen neuen Parkplatz zu suchen.
Danach, so der Beschuldigte weiter, habe er sich plötzlich auf der Wiedervereinigungsfeier inmitten einer aufgebrachten Menschenmenge wiedergefunden. Irgend jemand habe sich auf die Motorhaube seines Wagens gesetzt und sich an den Scheibenwischern festgehalten, während andere mit den Fäusten auf seinen PKw einschlugen. Hinter ihm sei die Heckscheibe zersplittert. „Ich habe panische Angst gehabt, daß man mich lynchen wollte.“ Mit verschiedenen Wendemanövern seines Fahrzeugs sei es ihm gelungen, der bedrohlichen Situation zu entkommen. „Genauer kann ich mich aber nicht erinnern.“ Aber, so sagte er, er bereue die Tat zutiefst.
Als der Vorsitzende Richter ihn mit dem Vorwurf konfrontiert, daß er den Wagen am Morgen nach den Ereignissen verkaufen wollte, wird der dickliche Mann mit dem schütteren Haar ungehalten. Im Widerspruch zur Aktenlage beharrt er darauf, daß ein zufällig vorbeikommender Passant das Auto spontan für 700 Mark kaufen wollte. Dieser Käufer hatte allerdings bei der Ermittlungsbehörde zu Protokoll gegeben, daß der Angeklagte den Wagen am Morgen des 4. Oktober öffentlich zum Verkauf angeboten habe.
Mit der Vernehmung der Zeugen, von denen fünf den Prozeß als Nebenkläger verfolgen, endete der erste Verhandlungstag. Ihre Aussagen bestätigten die Darstellung der Staatsanwaltschaft, nach welcher der Beschuldigte völlig rücksichtslos in die Menge gefahren sei. Der Prozeß wird am 23. September fortgesetzt. Peter Lerch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen