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Gegen die kritische Rekonstruktion

■ betr.: „Kämpfen für die Tradi tion“, taz vom 8. 9. 1994

Das Plädoyer vom amtierenden Senatsbaudirektor Dr. Hans Stimmann für die Tradition der europäischen Stadt wirft mehr Fragen bezüglich der Stadt auf als beantwortet werden. Fragen nach der Berechtigung einer regionalen Tradition, nach der Berechtigung der kritischen Rekonstruktion der Stadt und nach der generellen Berechtigung des Begriffes „Stadt“.

Regionale Traditionen der Baukultur sind in einem ähnlichen Umbruch wie die meisten anderen Traditionen unserer Gesellschaft. Die weltweite mediale Verknüpfung der jüngsten Vergangenheit läßt die Distanz von Berlin nach New York für viele Menschen geringer erscheinen als die territoriale Entfernung von Berlin nach Potsdam. Regionalismus erscheint in diesem Zusammenhang als eine verklärte Idealisierung der Vergangenheit, die im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde und für die jetzt ein Ersatz geschaffen werden soll. Der historische Stadtgrundriß ist nur eines der Charakteristika, nach denen eine Stadt und ihre Urbanität zu planen sind. Berlin hat sich grundlegend geändert, seine territoriale, gesellschaftliche und politische Entbindung fordern einen zeitgemäßen Umgang mit der Urbanität.

Die von Hans Stimmann angesprochene „irrsinnige Internationalität“, mit der derzeit in Berlin gebaut wird, basiert bei den von ihm genannten Beispielen auf der Tatsache, daß die Wettbewerbe vor seinem Amtsantritt entschieden waren. Inwieweit die Internationalität auch gleichzeitig Qualität bedeutet, hängt von der Fähigkeit der Bauverwaltung ab, die Qualität der Gebäude nicht zu beschneiden. Daß die Gebäude von Jean Nouvel, der unter anderem gerade in Köln baut, und das von O.M. Ungers, der sich unter Protest aus dem Wettbewerbsverfahren „Potsdamer Platz“ zurückgezogen hat, unter Hans Stimmann den Wettbewerb gewonnen hätten und zur Realisierung gekommen wären, ist mehr als unwahrscheinlich.

Die Internationalität der Architekten, die in Berlin bauen, hängt vor allem von der Anzahl der Bauaufgaben ab, die nach der Wiedervereinigung in Berlin zu bewältigen sind. Diese internationalen „Architekturstars“ sind nach der Überwindung des Regionalismus in ihrem Fachgebiet weltweit tätig, unter anderem auch an den besonderen Bauaufgaben in Berlin. Dadurch kann in Berlin eine Ansammlung von Kunst entstehen, denn Architektur sollte man ja wohl im Geiste Schinkels als eine solche definieren, die sicherlich dem Stimmann-Dogma der preußischen Einfachheit grundsätzlich widerspricht.

Daß in einer Zeit gesellschaftlicher und politischer Neuorientierung aus der Unsicherheit heraus, der Gesellschaft mit Architektur eine Identität zu geben, auf Althergebrachtes zurückgegriffen wird, erscheint naheliegend. Doch dieser fatale Trugschluß spielt so mit preußischen Tugenden, daß unverkrampft die Situation Berlins vor 1945 in die Gegenwart übertragen wird. Doch die preußische Einfachheit darf nicht der Maßstab sein, an dem Berlin gemessen wird, denn nach 1945 passierten in dieser Stadt entscheidende Dinge, die man nicht ignorieren darf. Herr Stimmanns Aussage, daß er gegen den Abriß von Häusern ist, die vor 1945 erbaut wurden, sollte mindestens bis 1989 ergänzt werden, denn alle Gebäude Berlins tragen zu seiner Geschichte und Identität bei.

Diese Stadtentwicklungs- und Baupolitik ist weder links noch zeitgemäß. Berlin braucht eine innovative, pluralistische Stadtentwicklungspolitik, die auch hinterfragt, ob die Parzelle nicht durch drei- oder vierdimensionale städtebauliche Bezugsgrößen ersetzt werden muß.

Ansonsten können wir uns demnächst wieder mit Pferd und Kutsche fortbwegen, denn auch diese waren, wie die europäische Stadt, über zweitausend Jahre unumstritten. Holger Frielingsdorf

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