piwik no script img

Der Schatten des Körpers des Kanzlers

■ Über das Plakat der CDU zu den Bundestagswahlen

Zunächst fällt natürlich auf, daß hier die Beschriftung fehlt. Unbeschriftete Photographien im öffentlichen Raum haben etwas überaus Irritierendes. Sogar die Werbeleute haben Angst vor dem bloßen Bild und schreiben lieber groben Unfug auf ihre Plakate, als sie ohne Kontrolle der Schrift dem Verbraucher zu überlassen. Auf die Kraft der Irritation, die das bloße Bild in unserer – jawohl: immer noch – Schriftkultur hat, setzt die CDU mit ihrem zentralen Plakat, das Helmut Kohl lächelnd inmitten einer Menschenmenge unter freiem Himmel zeigt – eine kühne Entscheidung, wie man sie höchstens der Firma Benetton zugetraut hätte. Hellwache kritische Verbraucher haben die Verwandtschaft der Strategien denn auch sofort durchschaut und die Plakate mit Benetton-Aufklebern vervollständigt. Eine Aktion, angesichts derer übrigens die maßlose Kritik an der Benetton-Werbung im nachhinein ziemlich hysterisch aussieht. Die Leute haben von Benetton gelernt, sie haben sich auf den neuesten Stand der Dinge bringen lassen und wenden ihr Wissen prompt auf andere Werbekampagnen an: Hätte sich die kritische Medienwissenschaft mit ihrer alten Manipulationsparanoia je träumen lassen, daß der Genuß von Werbung gegen Werbung immunisieren kann?

Offenbar hat jene Alphabetisierung stattgefunden, die von den kritischen Theoretikern der Photographie, zuerst von Walter Benjamin, gefordert wurde: „Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein“, heißt es in Benjamins „Kleiner Geschichte der Photographie“. „Aber muß nicht weniger als ein Analphabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichen Bestandteil der Aufnahme werden?“ Der Benetton-Aufkleber auf dem Kohl-Plakat sagt: Wir wissen, wie man dieses Bild lesen muß. Wir wissen auch, wo ihr eure Anregungen herholt. Gar nicht schlecht, eure Idee, aber wir haben gelernt, daß auch Authentizität eine Marketingstrategie ist.

In Berlin findet man kaum noch ein Exemplar dieses Plakats, das noch nicht auf die eine oder andere Weise überarbeitet worden ist. Nicht alle tragen den Verweis auf die Vorbild-Kampagne. Manche sind in grober ikonoklastischer Weise, durch Decollage (auch einmal eine Technik der Avantgarde) oder Übermalungen geschändet worden – Kohl mit Hakenkreuz auf der hohen Stirn. Andere, subtiler, zeigen jetzt Kohl als Weihnachtsmann, Kohl mit Walter Ulbrichts Bart und Brille und so fort.

Läßt man in Ruhe eines der verschonten Exemplare auf sich wirken, stellt sich bald ein Effekt ein, der genau das umgekehrte bewirkt wie das im vergangenen Sommer so beliebte Starren auf 3D-Bilder: Hier entwirrt sich nicht schlagartig die verborgene Botschaft, sondern alles wird immer rätselhafter. Das Bild beginnt zu sprechen, und man kann den Eindruck bekommen, der Photograph (und ebenso der Grafik-Designer, der Art Director und wer sonst noch am Entstehen des Werks beteiligt war) habe sein eigenes Bild nicht lesen können.

Was ist zu sehen? Den Vordergrund des Photos bildet eine Reihe von Köpfen, die Helmut Kohl zu- und dem Betrachter abgewandt sind. Die Haarschöpfe und Halbprofile sind teils unscharf und bilden eine Art Rahmen für den Bildmittelpunkt. Der Bildausschnitt erlaubt keine Annahme darüber, wie groß die Menge ist, zu der die hier versammelten Menschen gehören. Eine Pferdeschwanz-Frisur sticht aus dem Vordergrund heraus; das könnte auf eine Frau schließen lassen. (Verläßlich ist dies Zeichen freilich nicht.) Sonst sind nur Männer zu sehen. Was hat man sich nur dabei gedacht, daß hier keine einzige Frau deutlich zu erkennen ist? Vermutlich gar nichts.

In der unmittelbaren Umgebung des Kanzlers sind einige Männer zu erkennen. Ein junger Mann mit hoher Stirn und klassischem Profil wirkt nachdenklich. An ihm lugt ein anderer ein wenig verschmitzt vorbei. Sein Blick zielt hinter dem Kanzler vorbei auf den Photographen beziehungsweise Betrachter. Der Kanzler ist eingerahmt von einer Menge, die im Hintergrund immer mehr verwischt, bis sich die Personen in impressionistische Kleckse auflösen. Ein rotes Stück Pullover, ein gelber Hut und ein blauer Stoffetzen stechen dezent aus dem Braun und Hellbraun der Haare und Gesichter heraus. Man kann erkennen, daß die Menschen ihre Köpfe recken müssen, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Es herrscht eine unaggressive Neugier, keine Euphorie, sondern eher gelassene Erwartung, die sich auf den leicht dezentriert nach links plazierten Kanzlerkopf konzentriert. Eine Photokamera wird ihm von rechts oben entgegengestreckt. Die Menschen sind gekommen, um sich ein Bild von ihm zu machen. Die Szene ist aus leicht erhöhter Perspektive, vermutlich mit einem Teleobjektiv, photographiert worden, wodurch sie nah und fern zugleich wirkt.

Der Kanzler ist größer als die Menschen in der Masse, die ihn umringt. Seine Haut ist heller, auch sein Haar ist heller als das der vorwiegend dunkelhaarigen, teils bärtigen Männer, die um ihn herumstehen. Seine Stirn leuchtet. Das Leuchten kommt von oben, von einem Licht, das ihm vorbehalten scheint. Sein mächtiger Kopf ist im Halbprofil zu sehen, eine Haltung, die Gerichtetheit mit Offenheit zum Publikum vereint. Sein Lächeln strahlt Gelassenheit aus. Er fühlt sich wohl bei dieser Gelegenheit, die mit einem Journalistenklischee gerne als „Bad in der Menge“ bezeichnet wird.

Er hat keine Angst. Man braucht auch vor ihm keine Angst zu haben. Wenn man von ihm in der Menge berührt wird, fühlt sich das bestimmt angenehm weich an. Er spricht nicht, gestikuliert nicht, mimt nicht den interessierten Zuhörer. Er ist da.

Es spielt ein Glänzen um seinen massigen Kopf, eine Aura, eine Aureole, daß man versucht ist zu schreiben: ER ist da. In dieser verschwimmenden, sich an den Rändern seltsam verflüssigenden Masse ohne Ornament treibt träge der massige, unsinkbare Körper des Kanzlers. Er ist nicht nur schwerer und verläßlicher, er scheint wie aus anderem Stoff gemacht, er gehört einer anderen Ordnung, einer anderen Wirklichkeitsebene an als die ihn umringenden Körper – das will uns die geschickte Lichtregie auf diesem Plakat sagen.

Der Körper dieses Kanzlers ist nicht das geringste Geheimnis seiner Macht. Warum sonst hätte man jahrelang das Wort von der „Birne“ gebraucht, das seine Körperform lächerlich machen sollte? Ein Mann mit Kohls Fähigkeiten in dem Körper von, sagen wir, Lothar de Maizière wäre eine politische Eintagsfliege geblieben. Der Körper dieses Kanzlers ist ein Mysterium, ein Fall für die politische Theologie.

Aus der politischen Theologie des Mittelalters ist die Denkfigur von den „zwei Körpern des Königs“ überliefert. Der König hat, wie es in einem englischen Rechtskommentar aus dem 18. Jahrhundert heißt, „zwei Kapazitäten, denn er hat zwei Körper, von denen der eine ein natürlicher Körper ist, der aus natürlichen Gliedern wie bei jedem anderen Menschen besteht, und in diesem Körper unterliegt er den Leidenschaften und dem Tod wie andere Menschen; der andere ist ein politischer Körper, dessen Glieder seine Untertanen sind, und er zusammen mit seinen Untertanen bildet eine Korporation, und dieser Körper unterliegt nicht den Leidenschaften wie der andere und auch nicht dem Tode.“

Was wir auf dem Wahlplakat sehen, ist nur mit den Mitteln dieser verwirrenden mittelalterlichen Theologie zu beschreiben: Es ist nicht einfach der „natural body“ Helmut Kohls, der hier ragt und leuchtet; es ist der eindrucksvolle natürliche Körper des Kanzlers in mystischer Einheit mit seinen Untertanen, in einer Person inkorporiert zum „political body“.

Wie würde es wohl aussehen, wenn sein Gegner sich so in Szene setzte? Jörg Lau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen