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Geradezu ein Lebensstimulanz

Daniel Schweizers „Vivre avec/Leben mit“ – Dokumentarfilm der Edition Manfred Salzgeber über vier HIV-Infizierte SchweizerInnen  ■ Von Thorsten Schmitz

Das Schönste ist, wenn sich Befürchtungen nicht bewahrheiten. Ich war mir ganz sicher, und hatte auch ein bißchen Angst davor, daß ich mit hängenden Schultern aus dem Film „Vivre avec/Leben mit“ kommen würde. Voller Traurigkeit und immer den einen Satz im Kopf: Wie furchtbar ist das alles! Und: Warum? Daß ich an HIV-infizierte Freunde und Bekannte denken müßte und melancholisch würde. Aus Hilflosigkeit.

Frappierenderweise aber impfen die vier todgeweihten Frauen und Männer in Daniel Schweizers Dokumentarfilm dem Zuschauer Mut ein. Oder so was wie Zuversicht: Sie geben auch denen Hoffnung, die das Aids auslösende Virus nicht in sich tragen.

Phillipe, Iris, Alexander und Sylvie haben sich irgendwann irgendwie infiziert und tragen den Tod in sich – aber sie leben erfüllter als manch andere, die nicht zu früh sterben müssen. Jeder Tag könnte ihr letzter sein, und so leben sie bewußt im Hier und Jetzt. Iris, 33, sagt einmal: „Jeder sollte so leben, als sei er HIV-positiv.“ Und für Alexander, 25, steht fest: „Der Tod macht mir nicht mehr Angst als das Leben.“

Überhaupt Alexander: Wie er mit seinen riesengroßen braunen Augen in die Kamera guckt und von seinem Virus berichtet. Er hat sich mit ihm arrangiert, eine Art Waffenstillstandsabkommen geschlossen, so blöd sich das liest. Ziemlich früh hat er es aufgegeben, das Virus zu bekämpfen. „Und ich hoffe, das Virus bekämpft mich nun auch nicht mehr.“ Wenn Alexander aufwacht, redet er mit den HI-Viren, als seien sie harmlose Haustiere. Sagt: „Guten Morgen, wie geht es euch?“ Oder: „Habt ihr gut geschlafen? Ich nicht.“

Das hört sich an, als sei Alexander bereits dem Wahnsinn nahe. Aber er ist es nicht, im Gegenteil. Eine große buddhistische Ruhe strahlt er aus. Früher war Alexander Steptanzlehrer und trat in Fernsehsendungen auf. Trug blonde Strähnchen im Haar und einen Oberlippenbart. Heute lebt er asketisch wie ein Mönch, sein Mobiliar ist auf das nötigste beschränkt, die Haare trägt er stoppelkurz, und er meditiert viel. Alexander erfuhr durch einen blöden Zufall von seiner Infektion, da war er 20. Seitdem „hat sich alles geändert. Ich sterbe mit dem Virus, aber ich lebe auch damit.“

Iris meißelt gegen ihr Gefühl der Hoffnungslosigkeit an, das sie mitunter heimsucht. Wenn sie einen Stein in ihrem Atelier bearbeitet, den Staub wegfegt und mit ihrem Freund die Figur bespricht, vergißt sie, daß sie HIV-positiv ist. Und Iris ist nicht wirklich allein, das weiß sie. Ihre Eltern helfen ihr sogar dabei, einen „Quilt“ genannten Trauerteppich zu nähen und zu besticken. Und ihr Freund, HIV- negativ, sagt, er habe durch sie „viel dazugelernt“.

Einmal weint Iris vor der Kamera, ihr Freund nimmt sie in den Arm und hält sie fest. Manchmal stoße sie an ihre Grenzen, sagt Iris. Manchmal wird ihr alles zuviel. Der Kampf für ein „menschenwürdiges Leben“, Tag für Tag, die Trauer, wenn wieder einer ihrer Freunde viel zu früh gestorben ist, weil es immer noch kein Mittel gegen Aids gibt. Zuviel wird ihr nicht so sehr die Vorstellung, irgendwann zu sterben. Zuviel „wird mir die Traurigkeit“.

Sie hat sich von Daniel Schweizer beobachten und interviewen lassen, weil sie zeigen will, daß „Menschen, die mit HIV und Aids leben, keine Monster sind“. Natürlich sind es nicht nur Schwule, die an Aids erkranken, das ist schon lange klar. Aber in den Köpfen mancher Menschen hat sich dieses Klischee eingenistet, da helfen nicht die seriösesten Statistiken. Daniel Schweizer porträtiert auch deshalb eine junge Mutter zweier Kinder, die mit ihrem Mann auf einem Bauernhof lebt. Die vier leben so wie der Durchschnittsschweizer schlechthin. Eine Idylle, aber eben auch nur fast.

Anfangs erzählte Sylvie, die Mutter, niemandem von ihrer Infektion. „Ich wollte kein Mitleid.“ Und auch ihr Mann tat sich schwer, über Aids wußte er nur soviel, daß es eine tödliche Krankheit ist. Erst konnte er es nicht fassen, daß ausgerechnet seine Frau infiziert sein sollte. Weigerte sich, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Inzwischen kann er mit Sylvie „über alles“ sprechen. Und daß sie Kondome benutzen müssen, daran hat er sich auch gewöhnt. „Wir sind ein Paar“, sagt Sylvie, „von Anfang bis zum Ende.“

Sylvie hat aufgehört, als Lehrerin zu unterrichten. Weil ihr Aufklärung wichtiger ist. Sie referiert in Schulen, redet mit Jugendlichen über alles, was mit Aids zu tun hat. Und die Resonanz gibt ihr viel Mut: Jeden Tag schreiben ihr Schüler, wie beeindruckt sie von Sylvies Schritt nach vorne sind. Die größte Angst hat Sylvie vor dem körperlichen Verfall. Und sie sagt auch: „Es würde mir seltsam vorkommen, morgens aufzuwachen ohne Virus.“

Allen vier ist gemeinsam, daß die Infektion wie ein Lebensstimulanz gewirkt hat. Sie ziehen den größtmöglichen Nutzen aus der Zeit, die ihnen noch verbleibt. Manchmal habe ich mich gewundert, woher die vier ihre Kraft nehmen. Denn auch mit Freunden kann man ja alleine sein. Phillipe, 29, beantwortet diese Frage denkbar simpel und einleuchtend zugleich: „Am Anfang war ich ziemlich depressiv. Wartete jeden Tag darauf, krank zu werden. Irgendwann sagte ich mir aber, vielleicht müßte ich einfach nur mein Leben ändern.“ Und das hat er getan. Sein größter Wunsch? „Mich noch einmal richtig verlieben!“ Und er grinst dabei.

Daniel Schweizer hat Phillipe begleitet, wenn er zum Arzt geht, sich mit der Mutter trifft, mit Freunden am Genfer See klönt und Bier trinkt. Und bei ihm wie bei den drei anderen hat man nie das Gefühl, sie seien durch ihre Infektion stigmatisiert. Selbst wenn sie sagen, sie litten manchmal an Depressionen, ruft das kein Mitleid hervor. Auch keinen Zwang, ihnen auf der Stelle zu helfen. Sondern ganz einfach nur Bewunderung. Und das Verlangen, alle vier kennenzulernen.

Heute und morgen 18 Uhr, 27., 29.9., 20 Uhr, Balázs-Kino im Haus Ungarn, Karl-Liebknecht-Straße 9, Mitte.

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