: Im Angesicht der Kriege
■ Rücksichten, Vorsichten und Aussichten: Freimut Duves Reflektionen
Der Publizist und SPD-Bundestagsabgeordnete Duve ist ein „Kind des Krieges“. Aber es ist nicht nur der Zweite Weltkrieg, der seine Lebensgeschichte markiert. Es ist auch sein „Anderssein“, sein „Mischling“-Status. Was ist Heimat? Was Familie? Vergeblich wartet er auf den jüdischen Vater, den er nie kennenlernte. Statt dessen bleibt dem 10jährigen 1945 das Bild eines vor Auschwitz-Fotos selbstmitleidig weinenden Großvaters haften, der schon 1923 Heil-dir-Oden an den Führer in Festungshaft schrieb. „Die Tränen waren Tränen über das Unglück der Deutschen. Das ist das Unglück der Deutschen.“
Das konnten sie nicht fassen: daß man sowohl Nazis wie auch Juden in einer Familie haben könne. Der junge Duve traf algerische FNL-Guerilleros Ende der 50er in Tunesien, von wo aus sie gegen den französischen Feind operierten. Dort, mit Camus unterm Arm, arbeitete der Hamburger in den Semesterferien, ein aufmerksamer, sensibler Beobachter. Wenn auch eine demokratische Gesellschaft wie Frankreich zum Folterer werden konnte, mußte man dann nicht bedingungslos diesen Kampf des algerischen Volkes unterstützen, wie es viele europäische Intellektuelle taten?
Die Geburt der „Dritten Welt“ mit der gleichzeitigen Vertreibung der Franzosen aus Algerien war für Duve kein Erfolg. Traumatisch für ihn das bittere, gnadenlose Zerwürfnis zwischen Sartre und Camus, der Verratsvorwurf, der Bruch über der Algerienfrage. Eine kurz darauf erfolgte Reise nach Südafrika, das sich mitten im Aufbau einer staatlich sanktionierten, nach Ethnien getrennten Gesellschaft befand, läßt Duve die damals nachgerade ketzerische Frage stellen, ob nicht doch Eroberer und Eroberte friedlich zusammen leben könnten. „Segregation oder Integration“ – diese das Links- rechts-Schisma weit hinter sich lassende Positionierung erklärt der Autor zu seinem „Lebensthema“.
Der neue Krieg in der Mitte dieses Jahrhunderts – der kalte – stabilisierte und lähmte zugleich. Es war auch ein intellektueller „Krieg in den Köpfen“ – bis heute. Für Duve ist „Linkssein“ nie bloße Selbstverständlichkeit gewesen. Der theoretischen Entscheidung setzt er die moralische entgegen, die aus den jeweiligen konkreten Erfahrungen erwüchse. Eine Haltung, die Duve vor seiner Politikerzeit hatte. Nichts regt ihn, den man vielleicht als Common-sense-Linken bezeichnen könnte, mehr auf als linker „Tribalismus“. Nichts bringt die andere Seite mehr in Rage als ein im Parlament die Nationalhymne mitsingender Duve, ein Duve, der dem Asylkompromiß (nach langem Ringen – im Buch widmet er dem etliche Seiten) zustimmt, ein Duve, der für eine Militärintervention im Bosnienkrieg plädiert.
Der Bosnien-Krieg. Obwohl seine Generation, die Prä-68er, wie keine andere von Krieg geprägt sei, wären sie doch „Glückskinder“ gewesen, schreibt Duve an anderer Stelle, da sie den friedlichen Wiederaufbau Westdeutschlands erleben und mitgestalten durften. Doch dann, nach heißem und kaltem Krieg, nach der historischen Zäsur 1989: Aus das Glück. Ein neuer heißer Krieg im demokratischen, stabilen Europa, ein völkisch-rassistischer Krieg im ausgehenden 20. Jahrhundert. „Segregation oder Integration“, eine Lebensfrage für die deutsche Gesellschaft insgesamt. In der politischen Autobiographie Duves die dichteste, gedankenreichste Passage.
„Balkankrieg, Migration und die Bedingungen für ein verbindliches Gewebe zum Schutz von Minderheiten“ sind Duve zufolge die Themen der 90er. Die Chiffren der Jahrtausendwende: Terror und Zivilität. Noch immer hat Europa keinen gemeinsamen Begriff vom Spannungsdreieck Minderheiten, Staat und Person, was eine gemeinsame Zukunft extrem erschwert. Ein statischer Multikulturalismus oder die bloße Parole vom Antirassismus würden jedoch nicht ausreichen, die Probleme, die Elastizität offener Gesellschaften überhaupt zu begreifen. Am Ende entwickelt der „pessimismusmüde“ Essayist Aussichten auch für die deutsche Gesellschaft. In einer Welt, in der Individuen extremen Rollenanforderungen ausgesetzt seien, aber auch erhöhte Flexibilität zeigten, reichten Staatsbürger- und Minderheitenrechte nicht aus. Duves eigenes „Dazwischen“ läßt ihn im „Mischling“, in dessen physischem, seelischem und beruflichem Recht, zwischen Gruppen stehen zu können – also auch dem Schutz vor Minderheiten – die neuen Gesellschaftswesen in einer globalisierten Welt erkennen. Für den Politiker, Deutschen und Endfünfziger Duve hat die urbane deutsche Gesellschaft immer noch zwei Gesichter: sie ist offen und darum gefährdet. Und sie ist offen und stabil. Andrea Seibel
Freimut Duve: „Vom Krieg in der Seele, Rücksichten eines Deutschen“. Eichborn, Frankfurt/Main, 218 Seiten, 29,80 DM
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