piwik no script img

Shakespeare aus der Favela

Hamlet für die Straße: Gutes Jugendtheater mit Lokalkolorit – aber: Wie sinnvoll ist es?  ■ Von Gerd Hartmann

„Sterben, schlafen, sonst nichts“ steht auf der Stoffwand, hingeschmiert, inmitten vieler anderer Graffitis. Was fehlt vom Shakespeare-Zitat, ist das Träumen. Das ist den Straßenkindern abhanden gekommen. Vor dem vollgekritzelten Tuchrahmen liegen ein Müllberg, ein Haufen Autoreifen und drei bemalte Ölfässer. Auf einem wackeligen Gründerzeitstuhl thront Cabeça (Kopf), seine neue Gespielin Rainha (Königin) neben sich. Seinen Bruder hat er gerade umgebracht, nun ist er der neue Bandenhäuptling. Sein Gegenspieler ist schwarz. Hamlet heißt er, der beste Freund des Ermordeten. Dürftig mit einem Pappkarton zugedeckt, ist er gerade zu Grabe getragen worden.

Der Königshof zu Helsingør hat sich in eine zugige Straßenecke verwandelt. Dort hausen die Shakespearegestalten, deren Biografie so gar nichts mit den blaublütigen Theatereuropäern gemein hat. Von kleinen Diebstählen leben sie, die ständigen Übergriffe der Polizei im Nacken. Sie schlagen sich durch, so gut es eben geht, diese Kinder ohne Kindheit. Das schließt lauernde Aggression genauso ein wie zähe Überlebensfreude. Tanz, Gesang und Kampf sind eins.

Die 14 Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren, die diesen „Hamlet“ spielen, nennen sich „Nossa Cara“ und kommen aus Salvador de Bahia im Norden Brasiliens. Zwei von ihnen lebten früher auf der Straße. Sie spielen die nicht gerade zimperliche Fabel aus Überlebenskampf, Intrigen, Mord und Wahnsinn mit Lakonie.

Das macht spürbar, daß ihre Wirklichkeit nicht so weit von der Bühne entfernt liegt. Die Kaffeeverkäuferin Horácia trägt ihren schwangeren Mädchenbauch so selbstverständlich durch die Gegend, wie es keine Profischauspielerin könnte. Wenn die Dinge von nebenan abgeschaut sind, wird der spielerische Zeigefinger unnötig.

Das Sozialprojekt „Axé“, zu dem Nossa Cara gehört, ist in Brasilien richtungsweisend (siehe Artikel oben). Trotzdem bleibt die Frage, welchen Sinn der Export eines Stückes hat, das in einem ganz bestimmten Kontext entstanden ist. Da mögen viele Faktoren eine Rolle gespielt haben. Das Goethe- Institut als Mitinitiator und Finanzier hat natürlich Interesse, die Früchte seiner Arbeit auch im Geberland zu präsentieren. Das kann in Zeiten knappen Geldes helfen, Argumente gegen Mittelkürzungen zu sammeln und Projekten wie diesem das Überleben zu sichern. Den Jugendlichen vermittelt eine Tournee durchs ferne Deutschland sicherlich wichtige Eindrücke einer anderen Welt. Die rührigen deutschen Organisatoren arrangieren Treffen mit Gleichaltrigen in Schulklassen und anderswo.

Für das Problem der brasilianischen Straßenkinder kann die Aufführung nur begrenzt sensibilisieren. Denn ohne die Worte verstehen zu können, die den Straßenhamlet vom Prinzen von Dänemark unterscheiden, überwiegt Lokalkolorit mit dem exotischen Hauch des Authentischen. Der 17jährige Hamletdarsteller erzählt im Sein-oder-nicht-Sein-Monolog ein Stück seiner eigenen Geschichte. Das muß man im Programmheft nachlesen.

In seinem theatralischen Ansatz ist der brasilianische Hamlet ganz normales Jugendtheater. Die ordnende Hand eines professionellen Regisseurs – Volker Quandt leitete drei Jahre lang die Kinder- und Jugendabteilung des Landestheaters Tübingen – gibt dem Ganzen einen klaren dramaturgischen Faden. Der Erfahrungshorizont und die Herkunft seiner Darsteller sind das Besondere. Das vermittelt sich jedoch nur ansatzweise in den Rhythmen, Gesängen und Gesten. Die zwischen den Szenen eingesprochenen Zusammenfassungen geben nur die Handlung wieder, und das hilft kaum.

Zu sehen ist eine unbändige Spielfreude, die sich schnell auf den Zuschauer überträgt. Zu sehen sind Akteure, denen ihre Rollen millimetergenau passen. Obwohl der Regisseur dem Shakespearschen Personen- und Handlungsgeflecht bis auf kleine Varianten folgt, wirkt nichts aufgesetzt oder gestelzt. Das alte europäische Universaldrama ist bruchlos auf die Favela übersetzbar. Das ist die eigentliche Entdeckung des Abends, und das ist nicht genug.

Tourdaten: Am 27.9. in Potsdam, Lindenpark. 29.9. in Kieselbronn, Stadthalle; 1.10. in Stuttgart, Rotebühlplatz; 2./3.10. in Tübingen, Foyer; 6./7.10. in Frankfurt/Main, Künstlerhaus Mousonturm; 10./ 11.10. in Hannover, Theater am Aegi; 13./14.10. in München, Stadthalle Germering; 15./16.10. in Nürnberg, Wilhelm-Löwe-Schule; 19.10. in Bochum, Bahnhof Langendreer; 20.10. in Osnabrück, Lagerhalle; 21.10. in Köln, Alte Feuerwache. Aufführung in brasilianischem Portugiesisch mit deutschem Erzähler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen