Sanssouci: Nachschlag
■ „Ollys Gefängnis“ von Edward Bond – Erstaufführung am BE
Kleine Vorbemerkung: Das gute alte Programmheft hat offensichtlich ausgedient! Vorbei die Zeit, in der man mehr oder weniger klug ausgewählte Texte als schweres Paket mit nach Hause nehmen konnte. Heutzutage kann man in der Volksbühne eine Diskette kaufen oder am Berliner Ensemble eine der grau und edel broschierten „Drucksachen“ erwerben. Die Drucksache Nr. 10 ist dem englischen Dramatiker Edward Bond gewidmet, dessen als BBC-Fernsehspiel entstandenes Stück „Ollys Gefängnis“ jetzt das erste Mal in Deutschland zur Aufführung gelangt ist. Die kleine Auswahl von Briefen Bonds zeigt, daß dieser Autor es sich mit seinen Regisseuren nicht leicht gemacht hat. Wiederholt lehnte er Uraufführungsangebote der Royal Shakespeare Company ab und begründete dies damit, daß er seinen Figuren keine „Psychologie aus dem 19. Jahrhundert“ verordnen wolle: „Ihr seid in der Kunst des Einbalsamierens erstklassig.“
Die Wahl des deutschen Erstaufführungsregisseurs fiel auf Peter Palitzsch. Das macht Sinn. Palitzsch hatte bereits 1972 den Bondschen „Lear“ erstaufgeführt. Schließlich ist er Brecht-Schüler, pflegt einen realistischen Stil, und er ist an einem Haus engagiert, das einst politisches Renommee hatte. Denn Bond ist ein eminent politischer Autor, mit einer ganzen Theorie, ja Philosophie im Kopf; ihm mag die alte Brecht-Bühne einiges bedeuten. Allerdings sind seit der ersten künstlerischen Begegnung von Autor und Regisseur 20 Jahre vergangen. Dem Autor mag entgangen sein, daß auch dieses Theater die Kunst des Einbalsamierens inzwischen ganz hervorragend beherrscht.
Drei Stunden sind die Zuschauer eingesperrt in „Ollys Gefängnis“. Ein Mann (Hans Diehl) redet auf seine Tochter (Anna Thalbach) ein, die ihm nicht antwortet. Bloß guckt, beleidigt, traurig, trotzig, ratlos, wie auch immer. Irgendwann hält der Mann ihr Schweigen nicht mehr aus und drückt ihr die Gurgel zu. Die Inszenierung geht mit leichter Hand über diesen Mord hinweg. Kein Todeskampf, kein Aufschrei. Selten habe ich einen so unrealistischen wie untheatralischen Bühnentod gesehen: ohne Anstrengung, körperlos. Nicht mal töten, nicht mal sterben darf Mühe machen. Das Drama findet nicht statt, das ist das Drama.
Eine dreiviertel Stunde zieht sich dieser erste Akt hin. Zwar geht die Geschichte von nun an immer schneller voran, dennoch kann sie die von Regisseur Peter Palitzsch verordnete Leblosigkeit, die gequälte Erzählweise nicht mehr abschütteln. Nicht nüchtern und realistisch ist dieser Stil, sondern hölzern. Karl Kneidls Bühnenbild pflanzt hohe Wände auf, die Außenwelt wird mit einigen Strichen angedeutet; dann wird die Welt noch grauer, es folgt das Gefängnis, in dem der Mann, Mike, zehn Jahre seiner Strafe absitzen muß. Er knüpft sich einen Strick, geht pinkeln und findet darauf seinen Kumpel Smiler (Steffen Schult), der in drei Tagen entlassen worden wäre, an der Decke hängen. Das Gefängnis gibt niemanden frei. Mike sucht nach seiner Entlassung Smilers Mutter (Traute Hoess) auf, zieht dort ein. Folgt das Finale: Frank (Matthias Bundschuh), der ehemalige Freund von Mikes Tochter Sheila, ist aus Haß Polizist geworden und versucht, Mike wieder in den Knast zu bringen, indem er eine Schlägerei inszeniert, bei der Olly (Ingo Hülsmann), ein alter Kumpel von Smiler, der bereits ein Auge eingebüßt hat, ein weiteres verliert. Es gibt kein Außen mehr, alles ist „Ollys Gefängnis“. Olly ist die lautsprachliche Verballhornung von „All's“ – zu deutsch „Aller Gefängnis“ oder „Jedermanns Gefängnis“. So gesehen gibt es kein Drinnen und kein Draußen, kein Gegenüber.
Ingo Hülsmann, Matthias Bundschuh Foto: Thomas Aurin
Bond lotet durch die Dreiteilung des Stückes verschiedene Stadien, Formen von Gefängnissen aus. Zugleich weist das Stück innerhalb der drei Akte ganz verschiedene Tempi auf; den gedehnten Anfang, den Stationen und Jahre überspringenden zweiten Teil, das furiose Ende in einer Schlägerei. Auf diese Vorgaben reagiert Palitzsch mit Gleichmut – oder sagen wir Einfallslosigkeit? Stoisch führt er seine Schauspieler durch die Untiefen des Raums. Sabine Seifert
Nächste Aufführungen: heute, morgen, 2., 4.–8.10., 19.30 Uhr, Bertolt-Brecht-Platz 1, Berliner Ensemble, Mitte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen