: Widerstand und Untergang
■ Schauspielhaus: Wolf Biermann stellt Jizchak Katzenelson vor
Es ist schwer, über ein Buch wie Jizchak Katzenelsons Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk zu schreiben und Worte zu finden, die diesem Zeugnis auch nur annähernd gerecht werden. Und dies ist keineswegs eine feuilletonistische Formel. Kein Artikel von hundert Zeilen Länge kann die Dimension dieses Großen Gesangs vom ausgerotteten jüdischen Volk – so der Titel von Wolf Biermanns Übertragung vom Jiddischen ins Deutsche – erfassen.
Und so ist es eigentlich verkehrt, über den historischen und biografischen Hergang sachlich zu berichten, denn all diese Informationen können zwar auf die Notwendigkeit, dieses Buch zu lesen, verweisen, aber niemals auch nur andeuten, was an Leid und Größe in der Geschichte des jüdischen Volkes unter den Nationalsozialisten geschehen und in diesen fünfzehn Gesängen enthalten ist. Es ist aber nicht minder verkehrt, beschreiben zu wollen, denn es ist nicht möglich, soviel wahnsinnige Wirklichkeit wiederzugeben, ohne in falsches Pathos zu verfallen. Es ist ein unlösbares Dilemma, das auch durch Mischformen der Wege nicht besser wird, und deswegen ist es am Besten, die eigene Hilflosigkeit einzugestehen, um dann doch zu berichten, wohl wissend, daß man es nicht richtig machen kann.
Jizchak Katzenelson schrieb das „Lied“ in dem Konzentrationslager Vittel in Frankreich, wo die Nationalsozialisten Gefangene mit Pässen von Nationen versammelten, von denen man sich einen Austausch mit dortigen deutschen Kriegsgefangenen erhoffte. Verweigerten die anderen Länder den Austausch, deportierte man die Gefangenen, wohl wissend, daß die meisten ihrer Pässe zur Rettung von Juden gefälscht waren, nach Auschwitz. Dort wurde auch Jizchak Katzenelson am 1. Mai 1944 ermordert. Zwei Versionen seines Manuskriptes, eines vergraben, eines in eine Ledertasche eingenäht, wurden aus dem Lager geschmuggelt beziehungsweise nach Ende des Krieges ausgegraben.
Katzenelson, dessen Frau und zwei seiner Kinder im Warschauer Ghetto in seiner Abwesenheit zur Deportation verschleppt wurden, beteiligte sich an dem Aufstand, wurde aber vor der Vernichtung des Ghettos durch die deutschen Truppen von den Widerstandskämpfern in ein Versteck außerhalb geschmuggelt. Die Hoffnung, mit den gefälschten Pässen ins Ausland reisen zu können, ließ ihn das Angebot annehmen, das – da eine von den Deutschen gesteuerte Aktion – schließlich zu seiner Ermordung führte.
Die Wirklichkeit des Warschauer Ghettos und die Erfahrung der gewaltsamen Verschleppung seiner Familie in seiner Abwesenheit stehen im Mittelpunkt der „Gesänge“. Katzenelson beschreibt den Alltag im Ghetto, die Organisation des Kampfes und seine Protagonisten, die Vernichtungspolitik der Deutschen aber auch die Verbrechen der jüdischen Polizei, die Angst, den Terror, die Kraft der kalten Verzweiflung und das persönliche Leid stellvertretend für millionen gleicher Schicksale. Es bedarf einiger Kraft, um das alles zu lesen, aber vielleicht gibt es auch eine Pflicht, dies zu tun.
Till Briegleb
Jizchak Katzenelson - Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk; Kiepenheuer & Witsch
Wolf Biermann trägt seine Übertragung aus dem Jiddischen am Sonntag um 20 Uhr im Deutschen Schauspielhaus vor
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